Im Jahr 1980 trat der 19-jährige Bobby Shafran seinen aller ersten Tag am College an. Was ihm zunächst wie ein aufregender Start in einen neuen Lebensabschnitt erschien, sollte aber schon im nächsten Augenblick sein gesamtes Dasein auf den Kopf stellen. Als er gerade erst im Studentenwohnheim ankam, bemerkte sein Zimmergenosse eine unglaubliche Ähnlichkeit zwischen Bobby und seinem ehemaligen Kommilitonen Eddy Galland. Er war so verblüfft, dass er noch am selben Abend ein Treffen zwischen den Doppelgängern arrangierte. Schnell kamen die Anwesenden dabei zu dem Schluss, dass Bobby und Eddy Zwillinge sein müssen. Schließlich glichen sich die jungen Männer nicht nur wie ein Ei dem anderen, sie wurden zudem beide adoptiert und am selben Tag geboren. Die schicksalhafte Zusammenführung der Brüder weckte sehr bald auch das Interesse örtlicher Reporter, die ihre Geschichte auf die Titelseiten sämtlicher Regionalblätter brachten. In den dabei veröffentlichen Fotos, erkannte sich zum Erstaunen aller ein dritter Jugendlicher wieder, David Kellman.
Über Nacht wurden die Drillinge förmlich zu kleinen Stars, die zu diversen Talkshows eingeladen wurden und sogar einen Cameo-Auftritt in einem Spielfilm bekamen. Dabei faszinierten sie die Menschen nicht bloß mit der außergewöhnlichen Geschichte, die zu ihrer Wiedervereinigung führte, sondern auch damit, wie enorm ähnlich sie sich waren. In der Tat teilten sich sich Bobby, Eddy und David neben ihrem Aussehen auch viele Persönlichkeitszüge, Angewohnheiten sowie Interessen und Vorlieben, so dass sie manchmal sogar die Sätze des jeweils anderen beenden konnten.
Die Drillinge genossen es sehr, sich gegenseitig kennenzulernen und zusammen im Rampenlicht zu stehen, nichtsdestotrotz quälten sie während dieser ganzen Zeit einige offene Fragen: Weshalb entschied man sich dafür, sie bei der Adoption zu trennen, wenngleich viele wissenschaftliche Studien belegen, dass frühkindliche Verlusterfahrungen u.a. das Risiko einer psychischen Erkrankung steigern? Und wieso wurden ihre Adoptiveltern erst gar nicht über die Existenz der jeweils anderen beiden Kinder informiert? Auf der Suche nach Antworten wendete sich die Familien der drei jungen Männer an ihre damalige Adoptionsagentur, die Louise Wise Agency. Die Verantwortlichen vertrösteten sie allerdings mit der simplen Erklärung, dass es zu schwierig gewesen sei, drei Kinder auf einmal zu vermitteln.
Erst fünfzehn Jahre später, als der Journalist Lawrence Wright während Recherchearbeiten auf eine dubiose Studie zur Anlage-Umwelt-Debatte stieß, nahm die Geschichte der Brüder eine weitere Wendung. Diese war zwar erschütternd, gab den ihnen aber die langersehnten Antworten. In der besagten Studie wurden zur Adoption freigegebene, eineiige Zwillinge, welche selbstverständlich exakt dieselbe DNA besaßen, vorsätzlich voneinander getrennt und in zwei grundverschiedenen Familien untergebracht. Derweil ahnte keine der beiden Adoptivfamilien, dass ihr Kind einen Zwilling hat und man es zum Subjekt eines sozio-psychologischen Experimentes war. Unter dem Vorwand, lediglich an der Entwicklung und dem Wohlbefinden adoptierten Kinder interessiert zu sein, willigten die Eltern noch vor der Adoption ein, ihren Nachwuchs regelmäßig an einer psychologischen Routineuntersuchung am New Yorker Child Development Center teilnehmen zu lassen. Insgeheim dienten diese Untersuchungen allerdings dazu, neuen Erkenntnisse zu einer vieldiskutierten, wissenschaftlichen Frage zu gewinnen: Sind das Verhalten, die Fähigkeiten und Vorlieben eines Menschen genetisch veranlagt oder werden sie vorwiegend durch das soziale Umfeld geprägt?
Nun kann man sich vermutlich schon denken, dass das Child Development Center bei diesem Experiment mit ein und derselben Adoptionsagentur kooperierte, die einst auch Bobby, Eddy und David vermittelte. Das erkannte auch Lawrence Wright, der kurzerhand Kontakt mit den Brüdern aufnahm, um ihnen von seinem Fund zu berichten. Gemeinsam stellten Wright und die Drillinge weitere, eindeutige Parallelen zwischen ihrem Fall und dem der Zwillinge aus der Studie fest. Zum einen stammten die Adoptiveltern der drei Männer ebenfalls aus verschiedenen sozialen Milieus und zum anderen wurden Bobby, Eddy und David in Kinderjahren wiederholt von einem Psychologen besucht. Aus diesem Grund bestand für sie kein Zweifel daran, dass auch sie als menschlichen Laborratten missbraucht wurden. Bedauerlicherweise erfuhr Eddy Galland nie von dieser Entdeckung, denn nur wenige Wochen zuvor, nachdem er ebenso wie seine Brüder jahrelang mit mentalen Problemen zu kämpfen hatte, nahm er sich das Leben.
Bis heute wurden die betroffenen Mehrlinge in keiner Weise entschädigt. Während einzelne Personen zwar bedauern, an der Durchführung der Studie beteiligt gewesen zu sein, sprechen sich andere sogar weiterhin für die (ethische) Legitimität dieser aus. Darüber hinaus ist weder bekannt, wie viele Menschen nach wie vor nicht wissen, Teil dieses Experiments gewesen zu sein, noch was die Auswertung der Studie letztendlich ergeben hat. Immerhin wird ein wesentlicher Teil der Arbeit immer noch unter Verschluss gehalten. Offiziell heißt es, dass sie zum Schutz der Betroffenen voraussichtlich im Jahr 2065, d.h. sobald alle möglichen Leidtragenden bereits verstorben sind, veröffentlicht werden soll. Man spekuliert allerdings, ob die Unterschlagung der Daten nicht auch andere Gründe haben könnte. Sind die Befunde wohlmöglich so gravierend, dass sie unser Menschenbild regelrecht erschüttern würden? Welche Folgen hätte es z.B., wenn die herkömmliche Annahme, dass unsere Identität vorwiegend durch das soziale Umfeld geprägt wird und weniger durch das Genmaterial vorbestimmt ist, wiederlegt wird? Hält man sich vor Augen, wie ähnlich sich Bobby, Eddy und David als eineiige Drillinge zu sein schienen, obwohl sie in unterschiedlichen Umfeldern aufgewachsen sind, könnte man fast annehmen, dass Gene hier die dominantere Rolle spielen…
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