Oder: Was zum Teufel haben Alzheimerpatienten, Akklimatisation und Augen mit Schönheit zu tun?
Die Frage „Was ist Schönheit?“ beschäftigt wohl so einige von uns. Egal ob es sich dabei um das Aussehen einer Person, eine schöne Landschaft, die Mona Lisa oder eine ansprechende Theaterinszenierung handelt. Auch beim Musikhören frage ich mich beispielsweise oft, weswegen ich ausgerechnet das Musikstück xy oder die Interpretation von genau dieser Sängerin als besonders schön empfinde. Dann frage ich mich oft noch, ob mein Schönheitsempfinden und mein Musikgeschmack etwas über mich selbst aussagt. Vielleicht geht es einigen von euch ähnlich…
Jedenfalls, schon vorne weg muss ich euch leider eins beichten: Ich kann euch auf die Frage leider keine eindeutige Antwort geben. Warum? Nun, Menschsein ist ja generell schon eine sehr komplexe Sache. Verschiedene Wissenschaften beschäftigen sich mit den diversen Facetten des humanen Lebens. So liegt es auch nahe, dass die Frage nach der Schönheit und dem Schönheitsempfinden nicht ganz so einfach zu beantworten ist. Und ein - in seiner Länge leider beschränkter - Newsbeitrag kann zudem die schier endlosen Aspekte nicht zur Gänze einfließen lassen. Dennoch gibt es einige Ansätze, denen ich – manchen mehr, manchen weniger – etwas abgewinnen kann.
"Ist es möglich, Schönheit mit den Augen von Wissenschaft zu betrachten oder führt das methodische Ermitteln von Schönheit dazu, dass unser sinnliches und emotionales Erfahren eingeschränkt wird?"
(Sagmeister / Walsh, Beauty, S. 20)
Eins scheint klar: Musik ist eine sehr persönliche Sache. Vielen Menschen ist „ihre“ Musik wichtig, sie verbinden damit gewisse Werte, Erinnerungen, Gedanken. Und außerdem… Schönheit liegt ja bekanntlich im Auge des Betrachter, oder? Nun, hier ist sich die Wissenschaft nicht ganz einig. Die Frage, ob Schönheit wirklich „im Auge des Betrachters“ liegt (und daher individuell durch die bisherigen Erfahrungen bedingt ist) oder doch objektbezogen ist (also salopp formuliert: Musikstück xy „ist einfach schön“) kann nicht schwarz-weiß beantwortet werden. Einerseits haben Versuche und Studien gezeigt, dass die Erfahrungen wesentlich sind, andere widerlegen dies wieder und weisen auf neurologische Begebenheiten hin.
Für die Objektbezogenheit spricht beispielsweise ein Versuch mit Alzheimerpatienten. Ebendiese Patienten waren aufgefordert Bilder individuell nach Schönheit zu ordnen. Ganz erstaunlich dann das Ergebnis: bei der Testwiederholung nach zwei Wochen kam es zu einer fast identen Reihenfolge. Daher kamen die Forscherinnen und Forscher zum Schluss, dass die Fähigkeit, Schönheit zu erkennen, unabhängig von Erinnerungen sei.
Im Gegensatz dazu zeigte sich in einem anderen Projekt, dass Erfahrungswerte doch eine Rolle spielen. Verglichen wurden Kunstexperten und Laien. Es kristallisierte sich heraus, dass Laien symmetrische Formen und einen gleichmäßigen Aufbau bevorzugen, Kunstexperten im Gegenteil dazu Asymmetrie (Symmetrie sei „zu einfach“).
In einem anderen Versuch (wiederum Laien und Kunstexperten) wurden die Gesichtsmuskeln gemessen. Den Versuchspersonen wurden für Sekundenbruchteile Bilder gezeigt, d.h. die Testpersonen hatten keine Zeit die Bilder bewusst zu betrachten.
Hier zeigte sich, dass beide Gruppen ähnlich reagiert haben. Bei näherer Betrachtung unterscheiden sich allerdings wieder die Laien- und Expertengruppe. Die ursprünglich als negativ empfundenen Motive wurden von den Experten positiv bewertet.
Und was sage ich? Nun ich denke, irgendwie hängen wohl beide Aspekte (und viiiiele weitere – wie z.B. die Tagesverfassung der eigenen Person) mit dem Ästhetikempfinden zusammen. Die Beispiele skizzieren schön (ja, den Wortwitz musste ich einmal bringen, hihi), dass die Positionen beide in einem gewissen Kontext Bedeutung haben. Dem Faktor Erfahrung kann ich selbst viel abgewinnen. Ob der Mensch nun wirklich ein Gewohnheitstier ist, darüber vermag ich nicht zu urteilen. Aber speziell was Musik betrifft, zeigt sich für mich immer wieder, dass Gewohnheit wichtig ist. Atonale Musik z.B. ist zu Beginn schrecklich, weil sie einfach nicht nachvollziehbar ist (und wenn man das selber spielen muss, ist es übrigens noch schlimmer, das einzustudieren ist eine Hölle). Aber wenn man einmal so weit ist, das Stück „versteht“ und sich quasi „akklimatisiert“ hat, dann kann man selbst diese – vorerst eigenartig scheinende – Musik plötzlich genießen.
Das Akklimatisieren kann man sich im Hirn bildlich gesprochen so vorstellen: wir haben „Landkarten“, so genannte mental maps. Jeder Mensch hat erfahrungsbedingt individuelle Landkarten (u.a. deshalb auch die signifikanten Unterschiede zwischen den Laien und Experten). Diese Landkarten verändern sich bis ins hohe Alter (es grüßt herzlich der präfrontale Cortex). Beim pattern matching kommt es schließlich dazu, dass neue Einflüsse (z.B. wahrgenommene Musik) mit – im Fall der Musik - unserem akustischen Lebenslauf abgeglichen werden. Und das bestimmt dann unsere Präferenzen, frei nach dem Motto: „Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht!“
Zum Abschluss würde ich nun gerne den Ball an euch zuspielen und euch fragen, welche Songs, Musikgenres, etc. ihr besonders schön findet oder als ästhetisch beschreiben würdet. Und was geht so gar nicht? Ist es euch vielleicht schon passiert, dass ihr gewisse Lieder, etc. erst nach mehrmaligem Hören genießen konntet? Lasst euch doch in den Kommentaren dazu aus. Und auch Musikempfehlungen sind gerne gesehen! I freu mi.
Und ach übrigens: Da ich ja Musikwissenschaft (Schwerpunkte Musikpsychologie, Musikethnologie, Cultural Studies) studiere, hätte ich Lust solche Artikel in Zukunft häufiger zu schreiben. Also falls euch irgendein Musikphänomen besonders interessiert und ihr Fragen habt, schreibt sie mir gerne per PN und wer weiß, vielleicht schreibe ich demnächst darüber.
In der nächsten Folge… Ohren, Ohren, Ohren und wieso kann es auch richtig nervig sein, ein absolutes Gehör zu haben?