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Willkommen und vielen Dank für deine Bereitschaft dieses Interview mit mir zu führen! Wärst du so lieb und würdest dich erst einmal vorstellen?
Hey, ich bin Melind, 24, und Studentin. Ich hatte so im Teenageralter und auch später noch eine Essstörung, ich würde sagen das hat ungefähr angefangen als ich 12 oder 13 war und so richtig als gesund bezeichnen konnte ich mich erst mit 22. Ohgott, das sind fast 10 Jahre, help : D Aber so die akute Phase war, als ich noch jünger war.
Magst du uns einmal erklären was die Essstörung bei dir persönlich ausgemacht hat?
So mentale Auswirkungen oder meinst du die Symptome?
Ich vermute mal, wie sich die Esstörung bei mir ausgewirkt hat im Sinne vom Symptomen ~ also anfangs wars halt allgemeine Unzufriedenheit, so ein typischer Teenager, der generell mit allem unzufrieden ist. Zusätzlich waren meine Eltern immer schon sehr kritisch, haben öfters mein Essverhalten kommentiert oder mein Aussehen. Ich hatte damals auch ziemliche Probleme mit Akne. Und bin dann irgendwie auf den Trichter gekommen, dass ich durch mein Essverhalten und Gewichtsverlust "Kontrolle" über mein gefühlt chaotisches Leben bekommen kann. Fing dann langsam an mit weniger essen, dann Kalorien zählen, Essen heimlich abwiegen, hat sich dann gesteigert in sich nach dem Essen heimlich übergeben, heimlich Süßigkeiten essen, sich gedanklich nur noch um Essen drehen, sodass ich mir um meine "eigentlichen Probleme" keine Sorgen machen musste. Das Problem ist ja auch irgendwie, dass man wenn man abnimmt von außen auch viel Bestätigung bekommt, und ich bin auch sehr dafür, das Gewicht von anderen Personen einfach gar nicht zu kommentieren.
Jedenfalls drehte sich dann mein gesamter Alltag irgendwann gefühlt nur noch um Essen, während ich alles andere vernachlässigt habe. Weil das vermutlich einfacher war, sich auf eine Zahl auf der Waage zu fokussieren, als sich mit dem richtigen Leben zu beschäftigen. Und außer dass ich viel abgenommen und mich verändert habe, hat mein Umfeld sehr sehr lange gar nichts mitbekommen.
Ja genau das meinte ich. Ich finde es wirklich einen guten Ansatz, das Gewicht der anderen nicht zu kommentieren. Es sollte einfach keine Rolle spielen ob dein Gegenüber 'dünn' oder 'dick' ist. Du kannst nie wissen ob das ab- oder zunehmen ein Erfolg oder ein Misserfolg war... Es gibt ja auch nicht die eine Art einer Essstörung, die Art der Essstörungen, ist so vielfältig wie es Menschen auf der Welt gibt. Könntest du uns darüber einen genaueren Überblick geben?
Ja dem Kommentieren kann ich nur zustimmen. Also klar ist es normal, dass man mal was sagt, aber habe es oft genug erlebt, dass Leute zu mir kamen, mich umarmt haben und dann meinen Körper kommentiert haben, finde ich echt echt grenzwertig im Nachhinein. Wobei man als junger Mensch natürlich nicht so viel drüber nachdenkt, das ist klar.
Grundsätzlich gibt es verschiedene Essstörungen was Diagnosen angeht: Anorexie, Bulimie, Binge Eating und Mischformen. Ich würde mich zu Bulimie oder Mischformen ordnen. Bei Diagnosen ist es ja so, dass mindestens x Symptome von einer Symptomliste je Krankheit erfüllt werden müssen für die Diagnose - Kriterien für Bulimie sind beispielsweise folgende: wiederholtes selbstinduziertes Erbrechen oder Nutzung von Abführmitteln aus Angst vor Gewichtszunahme, starker Fokus auf das eigene Körpergewicht, Essanfälle, häufig Normalgewicht. Im Gegensatz dazu ist bei Anorexie ein Hauptsymptom für die Diagnose ein BMI von kleiner als 17,5, oft durch ausgeprägtes Hungern oder Erbrechen, ausgeprägte Angst vor Gewichtszunahme und häufig keine Krankheitseinsicht, um einige zu nennen.
Viele Symptome doppeln sich also teilweise.
Magst du uns etwas über die Definition deiner eigenen Essstörung erzählen?
Bei mir traf je nachdem welche Zeit betrachtet wird verschiedenes zu. Ich war erst in Therapie, als eigentlich die schlimme Phase der Essstörung schon
vorbei war, ich glaube bei mir wurde eine nicht nähe definierte Essstörung diagnostiziert und später dann eine atypische Bulimie. Symptommäßig hatte ich mich eher der Bulimie zugeordnet, ich habe mich halt regelmäßig übergeben, hatte allerdings keine wirklichen Essanfälle. So definitionsmäßig sind das sowas wie Essgelage, bei denen mehrere tausend Kalorien in kurzer Zeit gegessen werden, die dann aber durch Erbrechen/Abführmittel "neutralisiert" werden - sorry, kp wie man das sonst formuliert. Theoretisch kann man mit regelmäßigem Erbrechen auch atypischer Anorexie zugeordnet werden, aber keine Ahnung wie genau die Details da sind. War mir auch durchaus sehr bewusst, dass das alles schädlich ist und war ja auch alles geheim etc etc. Ein häufiger Unterschied der beiden Essstörungen ist auch die Krankheitseinsicht - Anorektiker sehen häufig gar nicht, wie dünn sie sind, also haben eine verzerrte Wahrnehmung, während Bulimiker sich dessen eher bewusst sind. Was aber alle Essstörungen gemein haben, auch mit Binge Eating, ist eben die exzessive Beschäftigung mit dem Thema essen - es zeigt sich dann eben nur in verschiedener Weise, während Anorektiker das eine Extrem bedienen, zumindest äußerlich, bedienen Binge Eater mit Essanfällen ohne darauf folgende "Gegenmaßnahmen" das andere Extrem. Viele Gedanken sind insgesamt sehr ähnlich.
Wie kam es denn, dass du erst in Therapie gegangen bist, als die schlimmste Phase vorüber war? Wurdest du von jemandem dazu überredet oder gezwungen eine Therapie zu machen oder kam der Wunsch von dir selbst?
Der Therapiewunsch kam von mir selbst, weil ich alleine nicht mehr weitergekommen bin. Zusätzlich hat mich ein schwerer Krankheitsfall in der Familie auch motiviert, endlich mal aus diesem Loch rauszukommen. Ich war mental zwischendurch sehr suizidal, hab neben der Essstörung auch Depressionen entwickelt, die waren eher noch ein Grund für Therapie als die Essstörung. Das war auch ein anstrengender Weg mit der Therapie - mein Umfeld wusste ja von nicht, musste es also mit mir erstmal vereinbaren. Habe übers Internet anonym einen Termin bei einer privaten Beratungsstelle gemacht, dort mit einer Therapeutin geredet. Der Leidensdruck war einfach sehr hoch, gleichzeitig habe ich mich ohnmächtig gefühlt und wollte nichts ändern. Sehr ambivalent also. Da war ich vielleicht 16, dann hat es nochmal 1 Jahr gedauert, bis ich den Mut zusammennehmen konnte, mit meinen Eltern zu reden und eine Therapeutin zu finden (das ging schnell, weil ich Glück hatte, aber die Therapeutin war nicht mein Fall).
Das freut mich sehr für dich, dass du da Glück hattest. Ich nehme an du hast nach der Therapeutin dann noch eine gefunden, bei der du dich wohler gefühlt hast? Wie bist du denn dann zu einem besseren gekommen?
Ja, genau. Ich war ungefähr ein Jahr bei der Therapeutin glaube ich. Hab dann nicht mehr verlängert, nachdem ich das Abi hatte und in eine andere Stadt gezogen bin. Ehrlich gesagt erinnere ich mich gar nicht mehr so genau, wie es am Ende ablief, weil ich noch weiß, dass sie mich zwischendurch in eine Klinik einweisen wollte. Ich glaube, das hat sie dann verworfen, weil ich ihr auch von Zukunftsplänen erzählt habe - die fand sie schlecht, aber whatever. War keine gute Therapeutin, aber ich war auch kein besonders therapieoffener Patient schätze ich.
Hab dann jedenfalls mein Studium angefangen, mir gings auch besser, bis es halt wieder schlechter wurde und ich schätze nach so einem Jahr Studium hab ich wieder gemerkt, wie ich mich in den ungesunden Verhaltensweisen verstricke und depressiv werde und irgendwie Hilfe von außen brauche, ohne mein Umfeld direkt zu belasten. War dann bei der psychosozialen Beratung der Uni, die haben mich an einen Therapeuten weitergeleitet und waren auch super lieb. Kann ich sehr empfehlen.
In der Therapie hat man anfangs sowas wie Kennlernsitzungen, du sagst warum du da bist, was du verändern willst. Habe auch n Zettel mit Fragen bekommen. Der Therapeut hat sich dann erstmal einen Eindruck gemacht, zB auch nach meinem Umfeld gefragt, ein bisschen nach der Vergangenheit etc. Konnte manches auch gar nicht beantworten, aber ist nicht schlimm gewesen. Und dann kann man nach den ersten Sitzungen entscheiden, ob es auch für einen selbst passt (muss ja menschlich auch stimmen).
Ja das kann ich mir gut vorstellen! Welche Ansätze hat dein Therapeut denn verfolgt? Und wie lief das ganze dann so ab?
Mein Therapeut hatte tiefenpsychologische und verhaltenstherapeutische Ansätze, also zum einen haben wir über aktuelle Probleme geredet, aber auch über vergangene Sachen, die mich beschäftigt haben. Er hat dann mir zu einigen Dingen dann oft Denkanstöße gegeben, die sehr hilfreich waren, um mal aus der eigenen Perspektive rauszukommen und das nochmal zu reflektieren. Manchmal gab es auch praktische Vorschläge, was ich in dieser und jener Situation tun kann. Die Themen waren immer unterschiedlich, meistens hat er gefragt, wie meine Woche war oder sowas und dann haben wir über was aktuelles geredet, manchmal aber auch an frühere Sachen angeknüpft. Und war ich wirklich wirklich angenehm fand, war dass er mir viel Zeit gelassen hat, wenn ich länger über eine Frage nachdenken musste und dann auch mal mehrere Minuten (gefühlt) geschwiegen haben. Zwischendurch hat er auch eine Klangschale zum Einstieg genutzt, vermutlich weil ich einfach innerlich so angespannt und gestresst war, dass ich erstmal geeredet werden musste lol. Habe auch sehr sehr viel geweint. Generell kann man die Inhalte aber eben
auch selbst bestimmen und das Gespräch auf Themen lenken, die man ansprechen möchte, da die Therapie ja einem selbst helfen soll.
Zwischendurch hab ich auch so Evaluationsbögen bekommen und einen Bogen mit allgemeinen Fragen, zB was aktuelle zu bearbeitende Themen für mich sind, was sich verbessert hat, was ich noch für Ziele/Wünsche für die Therapie habe.
Das klingt ja wirklich super! Hattest du vielleicht auch Kontakt zu Menschen mit einer anderen Essstörung?
Ich hatte tatsächlich über das Internet anfangs einigen Kontakt zu anderen Essgestörten. Da gibt es ganze Foren, vor allem bei Anorexie, die die Krankheit als eine Art Religion sehen, es ist echt verrückt. Wer sich dafür interessiert, das Y-kollektiv hat mal eine Doku zum Thema Magersucht & Pro Ana Foren gemacht, die ganz gut war. Eine frühere beste Freundin (so in der Mittelstufe) hatte Anorexie. Bei ihr ist das mittlerweile schon chronisch.
Würdest du dich denn jetzt als geheilt und vollständig genesen erklären?
Ja. Ich hatte zwar zwischendurch wieder Momente, in denen ich ein paar ungesunde Verhaltensweisen was Essen angeht an den Tag gelegt habe (also, sagen wir zB Essen erbrechen) aber sehe das halt dann eher als Signal, dass gerade was ziemlich schief läuft und ich mal kurz innehalten muss und schauen, was gerade das eigentliche Problem ist. Ich weiß nicht, ob das jetzt seltsam klingt, aber die Verhaltensweisen, die mit einer Essstörung einhergehen sind oft "Gewohnheitssache". Also man hat sich diese ungesunden Verhaltensweisen angewöhnt, heißt, man kann sie sich auch abgewöhnen. Den Gedanken fand ich ganz hilfreich. (Natürlich ist es nicht nur eine Verhaltenskomponente, sondern auch mentale und körperliche Sachen, aber dennoch.) Außerdem den Gedanken, wie schnell man da wieder rein rutscht.
Ich will mich nie nie nie wieder so fühlen wie früher und mich in derselben Situation wiederfinden und das liegt ja in meiner eigenen Verantwortung. Und wenn ich merke, es gibt was, womit ich nicht klar komme, hab ich auch sinnvollere Strategien gelernt, um das Problem zu lösen. Falls es was ist, was ich selber nicht lösen oder auch gar nicht benennen kann, was mich unglaublich belastet, würde ich mich auch jederzeit wieder Hilfe holen. Hab aber viele sinnvolle Bewältigungsstrategien aus der Therapie mitgenommen.
Das freut mich sehr für dich, dass du so gut gelernt hast damit umzugehen! Möchtest du ein oder zwei Strategien die du gelernt hast mit uns teilen?
Ja, finde ich auch ganz gut. XD
Hmm, ich habe mir beispielsweise angewöhnt, Tagebuch zu schreiben, wenn ich merke, das mich innerlich was bedrückt oder ich aufgewühlt oder überfordert bin. Das hilft mir, mich hinzusetzen und einfach mal alles Mögliche runterzuschreiben und manchmal auch eine Art Selbstgespräch in Tagebuchform zu führen (a la: Erstmal seinen ganzen Gedankenkram auf Papier kritzeln und sich danach sagen: Ich mache jetzt gleich das und danach das. Auf gehts.) Das hilft dann, manche Dinge einfach in eine andere Perspektive zu setzen, sich zu beruhigen, sich auf andere Dinge zu fokussieren, die eigenen Gefühle zu reflektieren.
Ansonsten auch viele Dinge, die auf Reflexion der eigenen Gedanken und Gefühle abzielen - wenn ich halt in Situationen komme, die ich sonst früher durch essgestörtes Verhalten "gelöst" hätte, kann ich halt heute gedanklich einen Schritt zurücktreten und falls "Druck" da ist, stattdessen Sport machen, einen Spaziergang, mich aus einer belastenden Situation rausziehen, was schönes für mich machen etc etc.
Hilfreich fand ich auch den Gedanken, dass ich manche Situationen und Menschen nicht ändern kann - das relativiert ja auch dann die eigenen Gefühle nochmal und man kann sich mehr auf andere Dinge fokussieren, auf die man tatsächlich mehr Einfluss hat.
Das klingt doch gut! Gibt es noch einen Aspekt zu diesem Thema, den du wichtig findest, der unbedingt bekannter werden sollte?
Als wichtige Anmerkung würde ich noch sagen, dass man jemandem eine Essstörung oft nicht ansehen kann. Menschen können krank sein, auch wenn sie nicht so aussehen, und wenn man von Essstörungen redet, denken die meisten ja erstmal an jemand stark untergewichtigen, und das Gewicht ist nur ein Teil des Ganzen. Jemand mit Übergewicht kann auch magersüchtig sein, auch wenn das vielleicht seltener vorkommt. Bei mir selbst hat man als Außenstehender wirklich nicht viel gesehen und ich habe ja auch weiterhin gegessen. Die ganzen inneren Konflikte sind von außen einfach nicht gut sichtbar, und ich will auch nochmal erwähnen, dass ich über mehrere Jahre (!) stark essgestört war und es niemandem direkt aufgefallen ist, weil ich es sorgsam versteckt habe.
Außerdem kann das Heilen von einer Essstörung oft Jahre dauern, weil man ja zwangläufig aus biologischer Sicht Essen muss, und dem daher immer ausgesetzt ist.
Danke für deine wichtigen Worte! Ich bin sehr froh das du so offen warst dieses Interview zu führen, hast du noch abschließende Worte an unsere Leser?
Für Leute, die vielleicht selber betroffen sind: Denk mal über die langfristigen Folgen nach und was du sonst mit deiner Zeit anfangen könntest, die du in die Essstörung investierst. Ist nie zu spät, was zu ändern :-)
Und für Leute, die nicht betroffen sind nochmal als allgemeine Erinnerung: Über anderer Leute Gewicht und Aussehen zu urteilen muss nicht sein, vor allem da du nie genau weißt, was dahinter steckt. Auch wenn Kommentare wie "Du hast ja abgenommen" meist nett gemeint sind oder auch Aussagen wie "Du isst ja eh nie was" / "War klar, dass du wieder Hunger hast" lustig sein sollen, bringen sie niemanden weiter und sind für die betreffende Person möglicherweise auch einfach mehr belastend als positiv. Gibt so viel interessantere Dinge, über die man reden kann und zu denen Komplimente gemacht werden können!
Das wars, hoffe das hat ein bisschen Einblick gegeben und vielleicht ein paar Fragen beantwortet.