Warum Weihnachten?
Cassie und ihre kleine Schwester saßen zusammen am Wohnzimmertisch und bastelten ihre Wunschzettel. Jedes Jahr zu Weihnachten schmückten sie am ersten Advent das Haus, am zweiten bastelten sie und am dritten Advent gab es ein Konzert in der Kirche, wofür die Kinder tolle Lieder einübten und zu Weihnachten würden sie sich mit der ganzen Familie das Krippenspiel ansehen. „Cassie. Gib mir mal die Zeitung da.“ Ihre kleine Schwester Johanna hatte schon ein komplettes A4-Blatt mit Wünschen vollgeklebt.
„Ich glaube das reichte Hannchen. Du hast genug Geschenkideen.“ Cassie schüttelte den Kopf und sah ihr Schwester streng an. Johanna war fünf Jahre jünger als sie und dieses Jahr in die erste Klasse gekommen. „Ist mir doch egal.“, rief Johanna. „Ich will das Handy auch noch haben. Es ist Weihnachten und da gibt es Geschenke. Viele Geschenke! Ich will es haben.“ Johanna fing an zu quietschen und schnappte sich die Werbung in der das Handy zu sehen war.
„Hannchen. Bei Weihnachten geht es nicht nur um die Geschenke.“ Cassie legte die Schere beiseite und stand auf. Während sie für sich und Johanna eine Tasse Kinderpunsch holte, blickte ihre kleine Schwester sie nachdenklich an. „Warum feiern wir dann Weihnachten? Weihnachten bedeutet Geschenke.“ Johanna sah sie an, verschränkte die Arme und reckte das Kinn.
„Zu Weihnachten beschenkt man sich und deshalb will ich das Handy haben.“ Cassie wärmte den Punsch auf und drehte sich zu ihrer Schwester um. „Es gab schon mal ein junges Mädchen, die dachte, dass es an Weihnachten nur um die Geschenke ging. Sie war eine wunderschöne Prinzessin, aber sie hat sich geirrt. Sie hieß Annabell und war nicht viel älter als du. Möchtest du die Geschichte hören?“
Johanna nickte und kletterte auf das Sofa und klopfte auf den Platz neben sich. „Ja. Ich liebe Geschichten von Prinzessinnen.“
„Also gut. Es war einmal eine junge und hübsche Prinzessin. Sie lebte in einem riesigen Schloss mit großen Ballsälen, wundervollen Gemälden und unzählig vielen Dienern. Jedes Jahr zu Weihnachten wurde der Palast wunderschön geschmückt, überall funkelte und glänzte es.“ Cassie setzte sich neben ihre Schwester und kuschelte sich mit ihr unter eine Decke. „Hatten sie auch einen Tannenbaum?“ Johanna sah sie neugierig an.
„Ja. Der Tannenbaum war gigantisch. Er war aus dem Wald, der gleich neben dem Schloss lag und ragte über drei Etagen in die Höhe. Die Lichter in dem Baum strahlten und nirgendwo im ganzen Land gab es einen beeindrucken deren Weihnachtsbaum. Das ganze Schloss erstrahlte in einem weihnachtlichen Glanz. Annabell, die junge Prinzessin hatte auch ganz viele Wünsche. Sie wollte einen Schlitten, einen teuren Pelzmantel, viele Süßigkeiten, seidene Kleider, neue Stiefel, ein Pony,...“ Cassie wurde von ihrer Schwester unterbrochen.
„Ein Einhorn! Sie wollte bestimmt ein Einhorn.“ Cassie nickte lachend. „Gut. Sie wollte ein Einhorn und noch viel mehr. Dann kam der Heiligabend und zuerst durfte sie Geschenke auspacken und anschließend gingen sie in die Kirche, um sich das Krippenspiel anzusehen. Annabells Eltern, der König und die Königin des Landes, hatten sich sehr viel Mühe gegeben. Gemeinsam mit den Angestellten verpackten sie Nächte lang die Geschenke für ihre Tochter. Annabell fand am 24. Dezember alle Geschenke unter dem gigantischen Tannenbaum und begann sie voller Freude aufzureißen. Sie bekam einen roten Schlitten, schöne Kleider, hübsche Stiefel und viele, viele Süßigkeiten und noch mehr. Doch Annabell war das nicht genug.
‚Wo ist mein Einhorn’, rief sie immer wieder. ‚Ich will mein Einhorn.’ Ihre Eltern schüttelten traurig mit den Köpfen und Annabell schrie immer lauter. Auf einmal kam die Köchin der Familie und überreichte Annabell ein weiteres kleines, in Butterbrotpapier eingewickeltes, Geschenk. Die junge Prinzessin lachte nur darüber. Es war nicht einmal hübsch verpackt.
Voller Wut schrie sie ihre Eltern an, dass sie Weihnachten kaputt gemacht hätten und warum man dann überhaupt noch feiern sollte, wenn man nicht das bekam, was man sich wünschte.“ Johann schüttelte entsetzt den Kopf.
„Das ist ja eine total superfiese Prinzessin. Ich bin nicht so. Ich würde mich über jedes Geschenk freuen.“ Cassie betrachtete schmunzelnd ihre kleine Schwester und erzählte weiter.
„Annabell wollte nicht mehr mit in die Kirche, doch ihre Eltern bestimmten, dass sie mitkommen sollte, um zu lernen, worum es an Weihnachten ging. Die junge Prinzessin schlüpfte in einen ihrer neuen, warmen Mäntel und steckte das Geschenk der Köchin unausgepackt in ihre Tasche.
Bockig stolzierte sie aus dem Schloss und stieg in die Kutsche ein. Gemeinsam mit ihren Eltern fuhr sie zur Kirche im Dorf und hörte schon von Weitem die Glocken läuten. Vor der Kirche angekommen, begrüßten ihre Eltern das Volk und hielten eine kurze Weihnachtsansprache, bevor das Krippenspiel begann. Annabell beobachtete ein paar Kinder in abgetragenen Sachen, die gerade eine Schneeballschlacht veranstalteten.
Das jüngste der Kinder war nicht älter als drei Jahre und hatte eine rote Nase und Löcher in den Schuhen, doch schien es diese nicht zu bemerken, genauso wenig, dass es kalt war und der Schnee seine Hose durchnässte. Nach der Ansprache ging es endlich in die Kirche und Annabell setzte sich so, dass sie weiterhin einen guten Blick auf die Kinder hatte. Die zwei älteren, vermutlich Geschwister, zitterten vor Kälte, da auch ihre Sachen nass von der Schneeschlacht waren.
Als das Krippenspiel begann, sah Annabell, wie einer der Jungen eine Kerze vom Altar stahl und sie mit in seine Sitzreihe nahm und alle anderen ihre Hände herum hielten.
„Warum müssen die Kinder so frieren? Können ihre Eltern keine neuen Sachen kaufen?“ Ihr kleine Schwester nahm einen Schluck Punsch und sah sie mit großen, fragenden Augen an. „Sie haben keine Eltern Hannchen. Es sind Waisen.“ Johanna schwieg einen Moment und forderte sie dann auf, weiter zu erzählen.
„Während des Krippenspiels wurde Annabell selbst in ihrem warmen Mantel ein wenig frisch und sie steckte die Hände in die Taschen. Dabei stieß sie auf das Geschenk der Köchin und packte es aus. Es war eine kleine, hölzerne Figur. Annabell drehte sie in den Händen hin und her und stellte fest, dass sie selbst geschnitzt war und ein winziges Einhorn darstellte. Es hatte einen geschwungenen Schweif, ein spitzes Horn und fühlte sich ganz glatt an. Es war wunderschön.
Das Krippenspiel war zu Ende und die Waisenkinder bekamen vom Pfarrer kleine Geschenke. Annabell beobachtete neugierig, wie die Jungen das graue Papier aufrissen und ertasteten, was sie bekommen hatten. Der Älteste aus der Gruppe bedankte sich freudig beim Pfarrer für einen kratzig aussehenden Schal. Sein Bruder bekam einen Nussknacker und umarmte stürmisch den freundlichen Kirchenmann.
Die junge Prinzessin begann sich zu schämen. Sie hatte heute noch kein einziges Mal danke gesagt. Beim Hinausgehen aus der Kirche war Annabell alleine, da ihre Eltern mit dem Kirchenrat noch über die jährliche Spende sprachen. Während sie wartete, fanden ihre Augen die Gruppe der Kinder wieder. Der kleine Dreijährige hatte eine Handvoll Schokobonbons bekommen und versuchte sie zu öffnen. Seine Hände waren allerdings so kalt und zittrig, dass er Verpackung und Schokolade nicht trennen konnte.
Annabell beobachtet, wie die anderen Kinder zu ihm liefen und der Älteste sofort seinen Schal auszog und um den Dreijährigen wickelte, obwohl er selber sichtbar fror. Der kleine Junge teilte gerade die Bonbons unter den anderen Kindern auf, als der Älteste ihr einen Blick zu warf. Annabell schämte sich. Die ganze Zeit stand sie hier in einem warmen Mantel und sah zu, wie diese Kinder litten. Sie hatte so viele teure Kleider, Schuhe und Mäntel bekommen und diese Kinder freuten sich über einen einfachen Schal oder einen Nussknacker.
Als ihre Eltern kamen, blickten sie überrascht auf ihre Tochter herunter, denn Annabell trug weder Schuhe, noch ihren Mantel oder die Mütze mit der sie aus dem Palast gefahren war. Der König kniete sich vor seine Tochter, der große Tränen über die Wangen kullerten und fragte sie, was denn los sei. Annabell zeigte auf die Gruppe der Kinder. ‚Ich habe ihnen meine Sachen geschenkt. Sie haben nichts und ich hab so viel.’
Gemeinsam fuhr Annabell mit ihren Eltern zurück in den Palast mit nicht mehr vielen Sachen am Leib und einem hölzernen Einhorn in der Hand. Nie wieder würde sie den Wert von Geschenken unterschätzen.“
„Sie hat echt ihre Sachen verschenkt?“ Johanna schüttelte verblüfft den Kopf. „Damit habe ich nicht gerechnet.“ Cassie lachte. „Na komm Hannchen. Lass uns unsere Wunschzettel fertig machen.“ Johanna rutschte wieder auf ihren Stuhl und warf einen Blick auf ihren Wunschzettel. „Ich bin fertig. Ich brauche nicht noch mehr.“ Wissend betrachtete Cassie ihre Schwester. „Bist du dir sicher, Hannchen?“
Johanna nickte. „Ja. Weihnachten ist das Fest der Liebe. Es geht um das Teilen und auch ein bisschen um die Geschenke. Aber vor allem um die Freude, das Zusammensein und die Familie.“
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