Oder: Was zur Hölle hat ein präfrontaler Cortex in meinem Lieblingskaffeehaus zu suchen?
Neulich ist mir etwas sehr Ulkiges passiert. Ich sitze in einem Kaffeehaus, lese eine Zeitschrift (natüüüüüürlich ne fachwissenschaftliche für die Uni) und im Hintergrund läuft Musik. Ich möchte schon die Augen verdrehen, da ich ja kein sonderlicher Fan des Radios bin, als ein Song ertönt, an den ich mich nur zu gut erinnern kann. Und ich mag die Klangsymbiose… Klar! Schließlich habe ich diesen Song vor gut zehn Jahren rauf und runter gehört. Und schon geht’s los: Erinnerungsfetzen hier, Erinnerungsfetzen da. Ich kann es selbst fast nicht fassen, aber dieser Nostalgieschub „catched“ mich wahrlich. Auf einmal sitze ich wieder in der Unterstufe, erlebe schöne aber auch traurige Erlebnisse, die sich dort ergeben haben. Streite mich mit der Wabffiue, von der ich heute – zehn Jahre später – allenfalls einmal im Jahr ein Lebenszeichen erhalte. Sitze im Probenraum der Schulband, wir bereiten gerade alles für unseren „großen“ Auftritt vor (schon witzig, inwiefern sich der Begriff „groß“ in den Jahren verändert hat). Tränen laufen mir über das Gesicht, etwas Schreckliches ist passiert. Alles fühlt sich so echt an. Und dennoch… sitze ich heute zehn Jahre später in dem besagten Kaffeehaus und es wird mir abermals klar, wie stark Musik, Emotion und Erinnerung aneinandergekoppelt sind.
Oft reicht schon wenig aus. Ein paar bekannte Akkorde eines Songs, ein Break, ein Schlagzeugsolo… und schon werden Gefühle bei Menschen geweckt. Schöne, traurige, sie beginnen in Erinnerungen zu schwelgen, wollen tanzen, sich mitteilen, sie weinen, sie lachen… Musik – ein Anker, welcher uns Menschen quasi durch das ganze Leben begleitet. Musik gilt als eine der wichtigsten Möglichkeiten, Bindungen und Verbindungen mit Menschen herzustellen… Egal ob die eigene Musik, der Radio, in der Nachrichtensendung, der Handyklingelton, Musik am Arbeitsplatz oder das Opening der Lieblingsserie – Musik ist omnipräsent. Na no na ned (wienerisch für: „Das ist selbstverständlich“ damit ihr euch auch mal bisschen bildet hier): Würde Musik nicht so einen großen Einfluss auf uns haben und auch mich stetig bewegen, hätte ich wohl auch keine Lust das Ganze zu studieren.
Jedenfalls: Trotzdem werden diese Töne und Geräusche oft kaum von uns wahrgenommen. Was freilich gut ist, denn Reizüberflutung wäre ja dann doch nicht ganz so nice. Trotzdem schreiben sich ebendiese Klänge ins Gedächtnis ein. Man nennt das einen „akustischen Lebenslauf“. Der akustische Lebenslauf wirkt auf unser Gedächtnis, aktiviert das emotionale und verarbeitet die Klänge. Die Verarbeitung ist allerdings ein extrem komplexer Vorgang, Rhythmen, Melodien und Tonhöhen müssen in der Region des Schläfenlappens miteinander kombiniert werden. Keine einfache Sache für den Schläfenlappen, aber schließlich kommt es zu einer Koppelung von Musik – Emotion - Erinnerung, die wie in meinem Fallbeispiel Jahre später ausgelöst wird.
Wer jetzt allerdings denkt, dass die Erinnerungen nur aufgrund von emotionalen Triggern ausgelöst werden, der irrt sich. Auch biologische Bedürfnisse haben ein Wörtchen mitzureden: Beim Hören von Musik werden im menschlichen Gehirn die selben Belohnungsmechanismen ausgelöst, die auch beim Genießen von einer leckeren Leberkässemmel (sagt die Veganerin) oder bei der Einnahme von Methamphetamin (oder jeder anderen hammergeilen Droge) auftreten. Dem Ganzen liegt meist eine chemische Reaktion im Körper zu Grunde. Einfach gesagt: Je aphrodisierender die Musik (bzw. je schöner ihr die Musik findet), desto eher die Wahrscheinlichkeit, dass wir bzw. unsere grauen Zellen die Melodie des Songs gemeinsam mit der geilen Erfahrung in unserem akustischem Lebenslauf abspeichern, weil das eine chemische Reaktion im Hirn auslöst.
Schön und gut, allerdings bleibt noch die Frage offen, wer dafür zuständig ist, dass ich letztens diesen überaus realen Kurztrip in die Vergangenheit gedanklich noch einmal erleben durfte? Wer ist schuld daran, dass Jahre später eine positive Emotion ausgelöst wird, wenn der besagte Song ertönt? Meine Damen und Herren, ich präsentiere: der mittlere präfrontale Cortex. Und über besagte Hirnregion solltet ihr alle froh sein, denn dieses Areal bleibt bis ins hohe Alter funktional und kann daher auch bei Erkrankungen wie Alzheimer oder Demenz noch stimuliert werden. Deshalb – und das nur als Information am Rande - können demente Menschen oft zwar keine vernünftigen Unterhaltungen mehr führen, aber sie erinnern sich an Lieder, die sie früher gesungen haben, Gedichte, die sie früher vorgetragen haben und können sie meist fehlerfrei wiedergeben. Ganz schön cool also, dieser präfrontale Cortex.
Und die Moral von dieser Geschicht'? Gebt euch hin und wieder Lieder, die ihr damals, vor Jahren, wahrscheinlich nicht mehr hören konntet, weil ihr sie so oft in Dauerschleife abgespielt habt. Ob es nun nur ein positives Gefühl, Erinnerungsfetzen oder ganz reale Nostalgieschübe sind - Euer Belohnungsareal im Hirn wird’s euch danken.
Und welche Songs bringen euch gedanklich zurück in die Vergangenheit und lösen Gefühle bei euch aus? Lasst euch doch in den Kommentaren dazu aus! I freu mi.
Und ach übrigens: Da ich ja Musikwissenschaft (Schwerpunkte Musikpsychologie, Musikethnologie, Cultural Studies) studiere, hätte ich Lust solche Artikel in Zukunft häufiger zu schreiben. Also falls euch irgendein Musikphänomen besonders interessiert und ihr Fragen habt, schreibt sie mir gerne per PN und wer weiß, vielleicht schreibe ich demnächst darüber. In der nächsten Folge… Was zum Teufel ist eigentlich Geschmack und wie hängen Musikgeschmack und Persönlichkeit zusammen?
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