Mustafa Kemal, der Vater der Türken, ist der prägendste Politiker des Landes. Wer schon mal in der Türkei war oder mit türkischen Freunden gequatscht hat, wird mit Sicherheit mindestens einmal seinen Namen gehört oder sein Gesicht gesehen haben, ob als Straßenname, auf Plakaten im Bus, auf Geldscheinen oder als Denkmal auf zahlreichen Plätzen.
Es gibt keinen staatlichen Feiertag, der nicht mit Atatürk in jeglicher Weise in Verbindung steht. Der ehemalige Soldat gilt als der Gründer der modernen Türkei, nachdem er am 29. Oktober 1923 das Land zur Republik erklärt und das Amt des Präsidenten eingeführt hat. Mit seinen Werten, Vorstellungen und Errungenschaften war er vielen anderen Orten der Welt einen gewaltigen Schritt voraus und reformierte die grundlegenden Bausteine des ehemaligen Osmanischen Reiches.
Im 14. und 15. Jahrhundert nahmen Osmanen (Nachfahren des turkmenischen Stammesführer Osman) Anatolien und Teile des Balkans und Schwarzmeerraumes ein. Nachdem sie 1453 Konstantinopel erobert haben, wurde die Stadt in Istanbul ungenannt und zur Hauptstadt des Osmanischen Reiches ernannt.
Im Ersten Weltkrieg kämpfte das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands gegen die Alliierten und gehörten somit auch zu den Verlierern des Krieges. Wie sonst auch üblich, wurden große Teile Anatoliens von den Alliierten unter britische Führung gesetzt, diese ließen aber die Regierung unter Sultan Mehmet VI. im Amt und verzichteten somit auf ein eigenes Besatzungsregime in der damaligen Hauptstadt Istanbul.
Bei den Friedensverhandlungen in Paris nach Kriegsende sollte Anatolien weitestgehend unter den Siegermächten Frankreich, Italien, Griechenland und Russland aufgeteilt werden, aber unter den Türken bildete sich Widerstand, woraus dann wiederum die Gründung der Republik Türkei mit Hilfe von Atatürk hervorging.
Mustafa Kemal wurde 1871 in Selânik, dem heutigen griechischen Thessaloniki geboren, wobei sein genaues Geburtsdatum unklar ist. Er selbst wählte später dafür den 19. Mai, welcher mittlerweile auch Nationalfeiertag in der Türkei ist. Mit 12 Jahren bewarb er sich an einer militärischen Mittelschule und setzte auch im jugendlichen Alter seine Militärausbildung fort, überwiegend an Institutionen mit starker westlicher Orientierung.
Als Kriegsheld zahlreicher Kriege galt er als "Retter von Istanbul", bekam den Titel "Pascha" verleiht und verhinderte als Oberbefehlshaber mit seiner Armee den Einmarsch der Griechen 1919. Kurze Zeit später gründete er eine Gegenregierung neben dem noch herrschenden Sultanat und fing an, den türkischen Staat neu aufzubauen. Seine darauffolgenden Reformen, auf die ich gleich noch näher eingehen werde, führten dazu, dass ihm 1934 der Familienname "Atatürk" (Vater der Türken) verliehen wurde.
Mustafa Kemal Atatürk starb ab 10. November 1938 im Dolmabahçe-Palast in Istanbul und ist in Anıtkabir, seinem Mausoleum in Ankara, bestattet, welches einer der wichtigsten Erinnerungsorte der Republik ist.
Atatürk verfolgte ein klares politisches Ziel, welches er radikal und kompromisslos verfolgte. Um sich nicht in das Istanbuler Herrschaftssystem des Osmanischen Reiches einordnen zu müssen, schaffte er seinen eigenen ethnisch homogenen und europäisch ausgerichteten Nationalstaat. Er führte damit die Türkei früh an den Westen heran und modernisierte das Land mit rapider Geschwindigkeit. Durch die Ausrufung der Republik 1923 gestaltete Atatürk die politischen, institutionellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes komplett neu und trennte sich radikal von der osmanischen Vergangenheit. Nach seinen Vorstellungen sollte Nationalismus die Identität der Bevölkerung prägen und nicht der Islam. Während seiner Amtszeit wurde Ankara zum politischen Zentrum und zur Hauptstadt der Türkei und sein neues türkisches Regierungssystem blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges so gut wie unverändert.
Um seinen Vorstellungen eines ethnisch homogenen Landes gerecht zu werden, fand ein Bevölkerungstausch statt. Es wurde die gesamte griechisch-orthodoxe Bevölkerung Anatoliens nach Griechenland und die gesamte muslimische Bevölkerung Griechenlands in die Türkei umgesiedelt. Zu Beginn der Republik bestand die Bevölkerung deswegen zu 98% aus Muslimen.
Um die Mehrheit der Bevölkerung aber auch dazu zu verleiten, sich auch als Türken als Teil eines Nationalstaates zu sehen, schuf er 1924 das Kalifat ab, wies alle Angehörigen der Herrscherfamilie aus und hob das Sultanat auf. Der Koranunterricht wurde an den Schulen verboten, ab 1928 war der Islam nicht mehr Staatsreligion und anstelle des islamischen Kalenders wurde der gregorianische eingesetzt. Er verbot außerdem sowohl arabische Literatur, Musik und Tänze, als auch das Tragen von muslimischer Kleidung außerhalb von Moscheen. Während Männer dazu verpflichtet waren, Hüte als Kopfbedeckung zu tragen, wurde das (Nicht-)Tragen eines Kopftuchs jedoch nicht reglementiert, obwohl er und seine Anhänger jegliche Verschleierung ablehnten. Darüber hinaus sorgte Atatürk für die Gleichstellung der Geschlechter, unterstützte die gesellschaftliche und politische Emanzipation der Frau und gab ihr aktives und passives Wahlrecht.
Atatürk reformierte auch die türkische Sprache, in dem er 1929 das türkische (lateinische) Alphabet zur offiziellen Schriftsprache erklärte und die Benutzung der alten osmanischen Schrift verbat. Außerdem wurden viele persische und arabische Wörter aus der türkischen Sprache entfernt, die zum damaligen Zeitpunkt zwei Drittel aller Wörter ausmachten. Enorme Auswirkungen hatte diese Sprachreform auf die Alphabetisierung der türkischen Bevölkerung. Innerhalb weniger Jahre verdoppelte sich die Zahl der Personen, die Lesen und Schreiben konnten. Zusätzlich wurden dann auch Maß- und Messeinheiten für Uhren, Kalender und Metermaße an den internationalen Standard angepasst, was den Anschluss der Türkei an die 'westliche Zivilisation' erheblich erleichterte.
Im Angesicht der heutigen Entwicklungen der Türkei unter Erdoğan spielen Atatürk und seine Wertevorstellungen nach wie vor eine sehr große Rolle. Während Atatürk sein Land vor territorialer Zerstückelung durch die Siegermächte bewahrt hat und das Land in kürzester Zeit enorm modernisierte, versucht Erdoğan und seine Partei AKP seit Jahren eine radikale Rückkehr zu den traditionellen Werten des Islams durchzusetzen und den Kemalismus systematisch wieder abzubauen. Dennoch teilen sie dabei eigentlich trotzdem eine fundamentale Gemeinsamkeit: sie sind beide definitiv keine Demokraten und setz(t)en ihre Vorstellungen eines türkischen Staates mit diktatorischer Vollmacht und einem autoritären Führungsziel durch.
Die Feiertage der Türkei werden von vielen auch als stiller Protest gegen Erdoğans Politik genutzt. Millionen von Menschen gehen zum Republiktag, dem Geburts- und Todestag Atatürks etc. auf die Straße und gedenken den Staatsgründer und ehemaligen Präsidenten. Da dessen Wertevorstellungen so gegenteilig zu denen des heutigen Staatsoberhauptes sind, kann eine Unterstützung Atatürks eben auch als eine Ablehnung der übermäßig traditionellen Werte und der zu starken Verknüpfung von Staat und Religion gewertet werden.
Aber auch wenn Atatürks Reformen die Türkei zu dem auch heute noch am weitesten entwickelten Land ihrer Region gemacht haben, hinterlassen auch die Schattenseiten der kemalistischen Revolution auch heute noch ihre Spuren. Beispielsweise die Unterdrückung, Zwangsassimilierung und Verschleppung von Minderheiten wie den Kurden oder Armeniern im Sinne einer einheitlichen türkischen Nation sorgen auch heute noch für große Konflikte und mehrere Anschläge von radikalisierten Organisationen wie der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans.