MEINUNG Dystopie der Ästhetik |
Lesedauer: 8 Minuten - Hördauer: 12 Minuten (Hörfassung) Ich habe ein neues Laster. Manchmal, da braucht man einfach ein kurzes entspannendes Video zum Abschalten. Vielleicht will man nur kurz eine Pause einlegen und sich mit etwas Sinnlosem beschäftigen. Oder man braucht ein kleines Bisschen Serotonin vor dem Einschlafen. Das Internet ist voll mit kurzen und langen Videos, welche gerne mit den Worten calming, aesthetic, soothing oder satisfying angepriesen werden. Nach dem Hype um ASMR Videos (welche wirklich nichts für jeden sind), diverse Seifenexperimente (ob zerschneiden oder machen) bis hin zu sogenannten Study with me Videos ist fast alles zu finden. Mein neuester Fall in den Hasenbau knüpft jedoch in der Vergangenheit an - und nein, ich schaue mir nicht wieder stundenlang Videos an, in denen jemand kleine Kuchen backt oder winzige Portionen kocht. Ich bin wieder in der Mommy-Vlogger-Sphäre gelandet, denn oh Gott, es gibt nichts, was ich mehr fetischisiere als eine Zukunft als Hausfrau. Seit ca einem Monat tue ich nichts anderes, als mir fast jeden Tag für rund eine halbe Stunde TikTok Compilations auf Youtube anzuschauen, in denen Essen weggeräumt, Wohnungen geputzt, Wäsche gemacht und dann und wann auch mal eine Kosmetikroutine gezeigt werden. Ich bin wie gebannt. Obwohl so ziemlich jede Wohnung im typisch amerikanischen und Pinterest-tauglichen Marmor und minimalistischem Farmhouse-Vibe der Mittelschicht aussieht wie die andere (und das nicht nur, weil alle die gleiche Ästhetik haben, sondern auch alle die gleichen Produkte bei Target en massen shoppen und die gleichen Aufbewahrungsbehälter gekauft haben), komme ich nicht umhin nach ein paar Tagen nur an der Farbe des Nagellacks oder der Farbe einer Trinkflasche zu erkennen, bei wem wir gerade in der Wohnung sind. Und während der eine Teil meines Gehirns ganz entspannt und zen stundenlang den gleichen Content schauen kann, schreit die kleine Stimme der Vernunft in mir auf. Und manchmal wollte ich dem Gör wirklich den Hals umdrehen, wenn es mir wieder meine 10 Minuten Videozeit vor dem Schlafengehen madig macht. Denn diese kurzen TikToks sind voll mit verschwenderischen, umweltschädlichen, ungesunden und sogar lebensgefährlichen Bildern. Natürlich, nicht alles muss so extrem sein, doch lasst uns nicht den Blick für das große Ganze verlieren. M o n o t o n i e d e r I n f l u e n c e r - D e k a d e n z Wer in den sozialen Netzwerken unterwegs ist, der ist mit dem Bild vertraut. Fast alle haben die gleichen Artikel, benutzen die gleichen Produkte, schwören auf die gleichen gehypten und hochgelobten Geheimnisse. Influencer um Influencer zeigen die gleiche Deko, preisen die gleiche Hautcreme an und schwören auf den gleichen Joghurt. Non-spon natürlich - zumindest steht nirgendwo etwas von Partnerschaften oder Deals. Und wer in die Fußstapfen der ganz großen Content Creator treten möchte, der macht natürlich mit und kauft die gleichen Produkte, um sie selbst in einer Kopie der Kopien an den Mann zu bringen. Dass die Inhalte dadurch monoton und potentiell langweilig werden, stört augenscheinlich niemand. Denn das Erfolgsgeheimnis in den sozialen Medien ist es einfach mal kurz viral zu gehen und dafür braucht man den entsprechenden Hook. Man könnte ewig nach neuen Möglichkeiten suchen. Oder man kann altbewährte Formeln aufgreifen und hoffen, dass eines davon mehr Klicks generiert, als sonst für einen üblich sind. Und das Massenbombardement vom gleichen Content sorgt doch auch nur für eine richtig gute Zuschauerbindung. Also alles, was die Apps brauchen, um einen erfolgreich zu machen. Hinzu kommt der augenscheinliche Druck, wie ein sogenanntes Influencerleben und das Umfeld eines Content Creator auszusehen haben. Diese Marken muss man tragen, die Gerichte muss man mögen. Wir befinden uns in einer Ära, in der Ästhetiken (getrieben durch die bildliche Vermarktung unser Selbst auf Seiten wie Instagram und TikTok) sich wie Trends entwickeln. Oftmals ist es nur ein Look, den man morgens anlegt und dann präsentiert, so lange die Kamera auf einen hält. Wenige der Ästhetiken haben auch tatsächlich einen Lebensstil dahinter, der umsetzbar ist. Diese Perversion ist am Trend “That Girl” zu erkennen - der neuen Version des Girl Boss, bei der es nicht wirklich darauf ankommt, eine bestimmte Art Mensch zu sein oder so zu leben, sondern den Anschein zu geben, dass man so ist, wie die ganz erfolgreichen. Es ist der Horror des Silicon Valley Lifestyles in der Hosentasche gepaart mit dem altbewährten fake it ‘til you make it. D e r p e r f e k t e L o o k Und es ist beeindrucken, wie sich aus den Bildern einer Ästhetik ein augenscheinlicher Kult entwickelt. Kinder und Jugendliche, die sich beeinflussen lassen und die glauben, dass so der Traum aussieht. Junge Erwachsene kurz vor dem Burnout, weil man versucht neben dem standardisierten Leben ein zweites Standbein aufzubauen, wo man als Selbstständiger 60 Stunden die Woche arbeitet, weil sein eigener Boss sein das große Ziel ist, auf das jeder hinstreben sollte. Und angetrieben wird dieses Gefühl des nicht genug Seins und des Drangs nach mehr - mehr Arbeit, mehr Performance, mehr, mehr, mehr, denn nur wenn du arbeitest verdienst du Geld und das Geld ist das Ziel - durch das gefaceliftete Parallelleben von Lifestyle-Gurus und Möchtegern-Influencern im Netz. Mit einem perfekten Look geht es los. Und der Look ist hier nicht ausschließlich modisch zu verstehen. Es bedarf einer Nische, eines Fleckens, den man ausfüllen möchte. Und dort hat man sich an die vorherrschenden Standards anzupassen - Standards, welche von Leuten gesetzt wurden, die seit einem Jahrzehnt die Nische aufgebaut und kuriert haben oder das nötige Kleingeld haben gleich von null auf hundert losstarten zu können. Du kannst das nicht? Tja, dann wirst du wohl nicht so groß rauskommen oder nur noch härter arbeiten müssen. 70 Stunden sollten für den Anfang genügen. Immerhin bleiben dir dann noch 98 Stunden in der Woche übrig. Mit 8 Stunden Schlaf am Tag heißt das 55 Stunden zur freien Verfügbarkeit - sofern man denn keinen 40 Stunden Job oder überhaupt einen Job nebenbei hat. Irgendwer zahlt schon die Miete. Wer denkt, das sei viel, dem wollen wir mal vor Augen führen, dass das nicht mal 8 Stunden am Tag sind. Ich will ja niemanden mit Statistiken langweilen, aber selbst der ins kleinste Detail durchgeplante Haushalt braucht mehr Zeit, wenn man sich nicht in schmutziger Wäsche zwischen Staubflusen und Haarbüscheln nur von Fertiggerichten ernähren möchte. Und plötzlich ist es gar nicht mehr verwunderlich, warum die Kühlschränke und Vorratskammern mit kleinen Snackpackungen, Chips, Keksen und Schokolade gefüllt sind. Warum Säfte in kleine 20cl Flaschen umgefüllt werden für den extra Kick und warum sich jede Woche mindestens 10 Liter Kaffeegetränk mit reichlich Zucker im Kühlschrank befinden. Es ist verständlich, wieso die Wäschekammer gefüllt ist mit Einzelpods und warum alles im Haus in Schubladen in einer selbst für mich als Ordnungsfan beunruhigend genau durchgeplanten Reihenfolge weggeräumt sind. Wer die Zeit nicht hat, sich mit den schönen Dingen des Lebens zu beschäftigen, weil die Arbeit so viel Zeit einnimmt, der muss geschmiert wie ein Werk laufen. R i s s e i n d e r F a s s a d e Und je mehr ich die Videos schaue, desto mehr bröckelt das Bild der perfekten Welt und dieses anfängliche Gefühl der Beklemmtheit ergibt Sinn für mich. Ich sehe Kistenweise Chips und Kekse und diese kleinen Lunchboxen für Kinder. In Haushalten, in denen sowohl Kinder leben, als auch nur Erwachsene. Es macht keinen Unterschied, ob ich einem Mommy Vlogger zusehe oder einem Single in meinem Alter. Sie alle kaufen die gleichen Produkte. Und dann für die gesunde Ernährung ein Kilo Erdbeeren. Frisches Gemüse wird nur dann gekauft, wenn man es am Wochenende in bissfertige kleine Häppchen schnippeln kann, die dann unter der Woche als kleine Snacks für Zwischendurch herhalten. Wenigstens essen sie nicht nur Chips… Und dann sehe ich riesige Kühlschränke, die bis zum Rand voll sind mit Fertiggerichten und Säften - so viele Säfte - und Joghurt in allen möglichen Verpackungen. Ich sehe keine Reste, weder Selbstgekocht, noch von Bestellungen oder Take-Out. Werden die für den Look der Ästhetik weggeräumt vor dem Video? Ein Blick in die Putzvideos zeigt mir, dass regelmäßig halbvolle Teller Lebensmitteln weggeschmissen werden, weil “sauber” gemacht wird nach dem Mittagessen. Recycling geht auch nur so weit, wie die fancy Mülleimer mit nur zwei Trennungen es erlauben. Dann das dreifache an nötigem Reiniger auf die Tische gesprüht und mit einem Küchentuch abgewischt. Mikrofaser mag vielleicht nicht perfekt sein, aber wenigstens kreiert es nicht jeden Tag zusätzlichen und vor allem unnötigen Abfall. Vor allem bei täglicher Reinigung muss nicht jedes Mal ein Desinfektionsspray her - Wasser und ein bisschen Spüli scheinen mir da schon übertrieben. Das viele Staubsaugen und Staubwischen kann ich nachvollziehen. Die ganzen trendy Teppiche sind einfach nicht für Haushalte mit Haustieren gemacht und erfordern mehr Pflege, als ein Kleinkind. Wäsche waschen ist dann die nächste Zerreißprobe. Einmal die Woche werden die Handtücher im Bad gewaschen. Hängen nur drei da. Reicht für eine Wäsche - in einer Maschine, die eindeutig auf 10kg Wäsche ausgelegt ist. Zu verstehen, wenn man bedenkt, dass es ein fünfköpfiger Haushalt ist. Aber dann doch lieber etwas mehr in mehr Handtücher investieren und umweltfreundlicher waschen können. Und natürlich werden zum Waschen Pods benutzt. Wäschepods, die nachweislich schon für volle Waschmachinen zu viel Produkt beinhalten - ich mein, die Hersteller wollen ja auch, dass man viel davon benutzt, ergibt schon Sinn - aber das dann in einer quasi leeren Maschine? Vielleicht ist es auch einfach nur mein Studentengeldbeutel, der sich beim Gedanken daran sträubt. Dass die Flüssigseife in Limo-Spendern im Regal steht verdrängt mein Gehirn augenblicklich, denn daran will ich jetzt nicht mehr weiter denken. Dann zum Schluss der Woche natürlich noch das Auffüllen von aufgebrauchten Produkten. Natürlich, ich kenn das. Einmal die Woche einkaufen gehen und dann entspannt vorplanen und auffüllen, was sich in der Woche geleert hat. Für die Ästhetik hat man dann aber riesen Behälter, in die man zum komplett Befüllen mindestens 3 Packungen von was auch immer benötigt. Ob Nudeln, Cornflakes, Frischeperlen oder gemahlenen Kaffee. Produkte, die zugeschweißt in kleineren Packungen verkauft werden. Wie viel Kaffee muss ich am Tag trinken, um die 2kg gemahlenen Kaffees aufzubrauchen, bevor er durch die Luft im Behälter seinen Geschmack verliert? Ist das nicht auch eine Form von Verschwendung? Ich bin jetzt geistig schon so am Ende, dass ich gar nicht mehr richtig aufpasse, während die Erdbeeren unter laufendem Wasser abgewaschen werden. Tatsächlich noch das, was ich am meisten nachvollziehen kann und die Dummheit, die ich mich am ehesten selbst begehen sehe. Bevor ich komplett wahnsinnig werde durch meine absolut blank liegenden Nerven öffne ich Youtube im Browser und starte ein neues Video. organizing, cleaning and restocking ASMR tiktok compilation die ich weiß nicht wievielte. Und für zehn Minuten ist die Welt wieder schön, denn mein Gehirn ist leer und ich lass mich einlullen in die perfekte Welt einer mir vollkommen fremden Person. |