DAS PERFEKTE ICH Über mich |
Lesedauer: 4 Minuten - Hördauer: 5 Minuten (Hörfassung) Wie so ziemlich jeder habe auch ich mich zu anfang der Pandemie sehr dazu genötigt gefühlt, irgendetwas Produktives mit meinem Leben anzustellen. Nun ja, Beginn der Pandemie ist vielleicht ein bisschen zu großzügig. So wirklich kam der Drang dazu erst im Mai auf, bis dahin war ich 100% Vibes - die guten und die schlechten. Aber im Sommer begann dann der Drang mich zu bewegen. Es war nicht mal, dass ich wirklich abnehmen wollte, obwohl ich mir durchaus der zusätzlichen 5kg Pandemie-Futter bewusst war. Ich wollte einfach ein bisschen mehr Bewegung in meinem Leben haben außer einkaufen und ab und an mal in die Hafencity spazieren gehen. Mein Drang zur Fitness kam durch diese innere Unruhe und den Wunsch ein bisschen ausgelasteter zu sein. Und ich merkte, dass meine Probleme mit mir selbst oft innerliche waren. Nicht falsch verstehen, ich bin ein Mensch mit körperlichen und äußerlichen Unsicherheiten wie jeder andere auch. Ich hab Tage an denen ich meinen Anblick im Spiegel nicht ertragen kann, an denen Fotos und Videos sich anfühlen, als würde nicht ich in dem Körper wohnen und Momente, in denen ich andere Menschen sehe und Neid seine hässlischen Arme um mich schlingt und mir ins Ohr raunt, ich wäre nicht genug und könnte nur dann besser sein, wenn ich so aussehe wie die Personen. Neid über die körperlichen Vorzüge anderer ist mir nicht fremd. Aber ich habe früh gelernt, dass es nichts bringt auf mich wütend zu sein, sondern dass das Problem externen Usprungs ist. Ich kann keine Kleidung aus hipen Läden tragen oder muss in Übergröße shoppen? So dick bin ich nicht, die Modeindustrie hasst nur alles, was kein Hungerhaken ist. Ich krieg keine bis wenig Aufmerksamkeit? Das sähe anders aus, wenn ich mich dem Druck beugen würde und anfangen würde mich zu schminken. Ich werde gehänselt? Das Problem hätte ich nicht, wenn ich ein Junge wäre oder einfach meine Beine rasieren würde. Das Problem war nicht ich, sondern die Reaktion der anderen und der Gesellschaft auf meinen Körper. Ich hatte nie das Gefühl ein generell hässlischer Mensch zu sein. Rückblickend betrachtet sah ich nie großartig anders aus als jetzt. Und wenn ich mich jetzt beschreiben müsste, dann würde ich schon sagen, dass ich genug Gründe habe mich selbst als hübsch zu empfinden. Ich habe große Augen mit langen dichten Wimpern, mein Rosacea sorgt für einen stets frischen rosigen Hauch auf den Wangen, ich habe einen ganz leichten Schmollmund, ich habe eine vielleicht etwas spitz geratene Stupsnase, markante hohe Wangenknochen, meine Augen schimmern je nach Licht richtig grün und meine Zahnlücke verleiht meinem Lächeln eine fast schon kindliche Verwegenheit. Objektiv betrachtet bin ich glaub ich auf der Schwelle zu hübsch-süß. Einzige Balance bieten mit mein Muttermal, meine dunklen Brauen und mein ernster Blick - aber durch sie wirke ich einfach nur nicht ganz so kindlich und nicht herb wie High Fashion Models. Aber abgesehen davon, dass ich jetzt in der Lage bin zu sehen, was mich hübsch macht, empfand ich mich nie so. Wie gesagt, ich war nicht hässlich, aber auch definitiv nie so hübsch wie die anderen Mädchen um mich. Ich war einfach. Erstklassiger Durchschnitt. Unscheinbar, unauffällig und manchmal sogar unsichtbar. Und es hatte seine Vorteile. Und obwohl ich mit vielen Problemen gekämpft habe - sei es die Hänseleien wegen meiner behaarten Beine, die Unsicherheit, weil ich mit 11 Kleidung in Übergröße kaufen musste ohne nach irgendeinem Standard dick zu sein oder die Unsicherheit, weil mir vermittelt wurde die fehlende Aufmerksamkeit von Jungs wäre etwas schlechtes - meine wirklichen Probleme hatte ich immer mit der Art wie ich bin. Mein inneres Ich hat mir mehr Probleme bereitet, als mein Aussehen. Aber noch leidiger als das Geweine über die vermeintlich übertriebene Schönheit aller anderen ist das Geweine darüber, dass man mit sich selber keine Zeit verbringen möchte. Und daran musste ich eindeutig am längsten arbeiten. Es ist sogar der Bereich, der mir auch heute noch am meisten zu schaffen macht und hin und wieder dieses Gefühl in mir hochbringt, ich wäre so ziemlich das ekelhafteste Scheusal, das es auf der Welt gibt. Das ist vermutlich nicht wahr und es gibt genügende Gründe, weshalb ich mit mir im Reinen sein sollte und könnte. Aber die stete Selbstreflektion, um die ich des persönlichen Wachstums Willens so bemüht bin, bringt nun mal auch leider mit sich, dass man in schlechten Phasen alles hinterfragt und in Dingen, die einfach sind, einen Fehler sucht. Ich bin also definitiv noch auf dem Weg auf emotionaler Ebene die Reifeübung zu durchlaufen, die ich bezüglich meines Aussehens schon hinter mir habe. Man muss nicht alles an sich lieben. Man muss Dinge an sich nicht zwingend hassen, nur weil man sie nicht liebt. Manchmal können Dinge auch mit einer ganz selbstverständlichen Nonchalence sein. |