Brennende Barrikaden und Busse, Straßenschlachten und fliegende Ziegelsteine in Belfast, Derry und anderen Städten in Nordirland - der Konflikt zwischen den republikanisch-katholischen und loyalistisch-protestantischen Fronten hat auch nach 23 Jahren Friedenszeit immer noch keine Ruhe finden können.
Einer der Gründe für die aktuellen Krawalle? Natürlich der Brexit und der im Abkommen festgelegte Sonderstatus Nordirlands. Um Warenkontrollen an der Grenze zum EU-Mitgliedstaat Irland zu verhindern, darf die Provinz weiterhin Teil des EU-Handelsraums bleiben - was wiederum zu Kontrollen zwischen Nordirland und dem restlichen Vereinigten Königreich und Widerstand bei einigen Loyalisten führt.
Aber auch die Beerdigung eines früheren IRA-Mitglieds im letzten Sommer sorgte für Unruhen. Obwohl sie während der ersten Covid-Welle stattfand, entschied die Staatsanwaltschaft Ende März, dass es keine Strafverfolgung für vermeintliche Verstöße gegen Hygieneauflagen geben wird. Da unter den Teilnehmern auch Politiker der katholisch-republikanischen Partei Sinn Féin anwesend waren, empfanden einige Loyalisten dies als unfair und kritisierten die Entscheidung scharf.
Wer ist hier eigentlich gegen wen und welche Ursachen hat der Konflikt?
Grundsätzlich lassen sich die Lager in Republikaner und Loyalisten einteilen, die einen sind also für die Zugehörigkeit der Provinz zur Republik Irland, die anderen bleiben der britischen Krone treu. Oft werden die Seiten auch in Katholiken und Protestanten eingeteilt, da die irische Bevölkerung früher überwiegend dem katholischen Christentum angehörte und sich schon sehr früh protestantische Engländer und Schotten besonders im Nordosten der Insel ansiedelten.
Doch ganz so einfach ist die Situation nicht zu erklären. Irland und England teilen eine komplizierte und jahrhundertealte Geschichte gefüllt mit politischen und sozialen Konflikten. Macht euch also lieber eine Tasse Tee und nehmt euch genügend Zeit. Bei der Frage nach den Ursprüngen des Nordirlandkonfliktes kann man nämlich eigentlich bis ins Mittelalter zurückgehen. Aber keine Sorge, ich werde nur das Notwendigste für euch zusammenfassen.
Irische und britische Vorgeschichte
Im 11. Jahrhundert invadierten die Anglo-Normannen einen Großteil der irischen Insel und 1541 gelang es dem damaligen britischen König, komplette Kontrolle über Irland zu gewinnen und versuchte, seinen reformierten Glauben durchzusetzen. Da die katholische Bevölkerung sich dem widersetzte, wurden nach und nach englische Protestanten nach Ulster (der nördlichsten Provinz Irlands) umgesiedelt, um deren Ländereien in Besitz zu nehmen. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden Katholiken aus den Schulen, öffentlichen Ämtern und dem Parlament ausgeschlossen. Im Jahr 1800 verlor Irland dann vollständig seine Unabhängigkeit und das irische Parlament wurde aufgelöst.
Unabhängigkeit der Republik Irland
Dies verstärkte den Widerstand irischer Nationalisten, was während des Ersten Weltkrieges zum Easter Rising führte, einem blutigen Aufstand mit dem Ergebnis der vorrübergehenden Einnahme des Regierungssitzes. Trotz der Erfolglosigkeit des Aufstandes gewann besonders die Nationalpartei Sinn Féin an Zustimmung.
Daraufhin folgte 1919 ein brutaler Unabhängigkeitskrieg zwischen den in Irland stationierten britischen Militärtruppen und der Irish Republican Army (IRA), einer irischen Untergrundorganisation, die in Großbritannien als Terrororganisation eingestuft ist, und welcher letztendlich 1921 in der Teilung Irlands endete.
Irland wird daher von vielen gern als erste und letzte Kolonie des Britischen Weltreichs bezeichnet, obwohl dieser Status häufig in der britischen Kolonialgeschichte ausgelassen wird. Für die Iren bedeutete dieser Zustand sowohl Zwang und Unterdrückung als auch soziale und gesellschaftliche Chancen und Freiheiten. Überhaupt ist der Kolonialstatus Irlands und dessen Einfluss auf die Entwicklung des Landes ein super interessantes und umstrittenes Thema, dem ich in diesem Beitrag gar nicht gerecht werden kann. Ebenfalls total spannend ist übrigens auch die Entstehung der britischen Identität, basierend auf den Definitionen von "not-Englishness" oder "otherness". Während sie "typische irische Verhaltensweisen" als aggressiv, kampflustig, primitiv und barbarisch darstellten, konnten die Briten sich davon abgrenzen und sich selbst als das Gegenteil definieren.
Bürgerrechtsbewegungen
Die Teilung in Republik Irland und Nordirland führte jedoch nicht zu Frieden zwischen der katholischen und protestantischen Bevölkerung, sondern eher zum Gegenteil. Um die katholische Minderheit weiterhin in der politischen Mitbestimmung zu benachteiligen, wurden die Grenzen der Wahldistrikte so gezogen, dass Katholiken in ihren Wahlkreisen keine Mehrheiten bekommen konnten (Gerrymandering). Außerdem orientierte sich die Anzahl der Stimmen an dem eigenen Besitzstand. Wer also ohne Grundbesitz war, verlor auch das Stimmrecht (Property disfranchisement). Dies traf besonders die überwiegend ärmere katholische Bevölkerung.
Im Oktober 1968 gingen dann die ersten katholischen Bürgerrechtler der Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) auf die Straße und die Antwort der Polizei goss noch mehr Öl ins Feuer. Es begannen Massendemonstrationen und gewaltsame Polizeieinsätze. Drei Jahre später stürmten Protestanten ein katholisches Viertel in Derry, die darauffolgenden Eskalationen sind unter dem Battle of the Bogside bekannt und zogen sich über drei Tage, bis die britische Armee den Aufstand gewaltsam niederschlagen konnte. Es folgten in ganz Nordirland weitere Aufstände und blutige Straßenschlachten, bei denen mehrere Menschen starben und verletzt wurden. Radikale Gruppen auf beiden Seiten entwickelten sich. Protestantische Loyalisten setzen Häuser in republikanisch-katholischen Vierteln in Brand und die Gewalt der IRA nahm zu.
Besonders einschneidend waren die Ereignisse am Bloody Sunday, dem 30. Januar 1972 in Derry. Kurz vorher wurden jegliche Arten von Demonstrationen und Versammlungen verboten und dennoch gingen Tausende auf die Straße, um für katholische Bürgerrechte zu kämpfen. Obwohl dieser zunächst friedlich verlief, änderte sich die Stimmung, als einige Teilnehmende auf vom britischen Militär positionierte Truppen trafen. Von der einen Seite flogen Steine, von der anderen Gummigeschosse, Tränengas und Wasserwerfer.
Die Ausschreitung erreichten aber erst ihren Höhepunkt, als die ersten Schüsse von Seiten der britischen Armee fielen. Insgesamt sollen innerhalb von 10 Minuten über 100 Schüsse in die unbewaffnete Menge gefeuert worden sein, wobei 13 Menschen, darunter mehrere 17-Jährige, sofort getötet wurden und ein weiteres Opfer später an den Verletzungen starb.
Die Umstände des Bloody Sundays sind bis heute noch nicht zu 100% klar. Das britische Militär vertrat die Meinung, dass Demonstranten zuerst das Feuer geöffnet haben sollen und rechtfertigten somit die Schüsse ihrerseits, doch mehrere Untersuchungen und Zeugenaussagen suggerieren das Gegenteil. Es wurde viel darüber diskutiert, ob die Todesopfer selber auch bewaffnet waren oder nicht und ob das Militär sich wirklich gegen vermeintliche Terroristen der IRA haben wehren wollen. Letztendlich sind sich die meisten aber einig, dass wehrlose Zivilisten ohne ersichtlichen Grund erschossen wurden.
Insgesamt starben circa 3500 Menschen in dieser von Gewalt geprägten Zeit, etwa die Hälfte davon waren Zivilisten, von denen die Mehrheit die bewaffneten Auseinandersetzungen ablehnten. Besonders die radikalen Kräfte beider Seiten, die zahlreichen Bombenanschläge und Gewaltakte der IRA und die gewaltreichen Reaktionen der protestantischen Ulster Defence Association (UDA), verantworteten viele brutale Auseinandersetzungen. Daraufhin übernahm 1974 die britische Regierung wieder die direkte Verwaltung in Nordirland.
Friedensprozesse
Da sich besonders die Attentate der IRA in den 1980er Jahren so stark ausweiteten, versuchte die britische Regierung mehrfach, den Nordirlandkonflikt politisch zu lösen. Nach mehreren gescheiterten Anläufen wurde dann im April 1998 das von der britischen und irischen Regierung ausgehandelte Good Friday Agreement (Karfreitagsabkommen) unterschrieben und durch Volksabstimmungen bestätigt. Während Dublin versprach, nicht mehr auf eine Wiedervereinigung Irlands hinzuarbeiten, erklärte sich London dazu bereit, die republikanische Partei Sinn Féin stärker an der Verwaltung Nordirlands sich beteiligen zu lassen.
Aktuelle Konfliktsituation
Die Spaltung der nordirischen Gesellschaft ist leider auch heute noch zu spüren. Besonders in Belfast gibt es noch Viertel, in denen fast ausschließlich Katholiken oder Protestanten wohnen und an den sogenannten Peace Walls werden nachts die Tore geschlossen, um Problemviertel voneinander zu trennen. Hier und da findet man auch noch Malereien an Häuserwänden, die an die Zeit des Bürgerkrieges zurückerinnern und es gibt weiterhin Rückschläge. Seit 2017 gibt es in Irland übrigens auch keine handlungsfähige Regionalregierung mehr, verursacht durch den anhaltenden innerpolitischen Dauerstreit der beiden größten Parteien Sinn Féin und Democratic Unionist Party (DUP).
Wie bereits am Anfang erwähnt, sorgt unteranderem auch der Austritt Großbritanniens aus der EU für neues Konfliktpotential. Gerade die pro-britischen Loyalisten sehen sich als die Verlierer des Brexits. Viele fühlen sich von der britischen Regierung verraten, denn das von Brüssel und London vereinbarte Nordirlandprotokoll des Austrittsabkommens trennt die Provinz vom Vereinigten Königreich nun nicht nur geografisch. Auf der anderen Seite jedoch steigt die Hoffnung der republikanischen Nordiren auf eine Wiedervereinigung mit Irland, jetzt, wo sie doch zusammen mit der Republik Teil des EU-Handelsmarkt bleiben dürfen.