Franz Kafka ist heute neben Goethe und Schiller wohl einer der bekanntesten (deutschen) Schriftsteller aller Zeiten. Es gibt kaum noch Leute, die keine Berührungspunkte mit Kafka, dessen Werke mittlerweile zum Kanon der Weltliteratur zählen, haben. Werfen wir jedoch einen Blick in die Vergangenheit, scheinen die heutige Situation und der Ruhm alles andere als selbstverständlich.
Kafka wurde 1883 in Prag, das damals zur Österreich-Ungarischen Monarchie gehörte, geboren. Seine Familie war jüdisch und gehörte der Minderheit in Prag an, deren Muttersprache Deutsch war. Insgesamt hatte Kafka fünf Geschwister – zwei Brüder, die bereits als Kleinkinder verstarben und drei Schwestern, welche zur Zeit des Nationalsozialismus in Vernichtungslagern ums Leben kamen. Durch den bürgerlichen Status seiner Eltern hatte er die Möglichkeit die renommierte Deutsche Knabenschule und anschließend ein humanistisches Gymnasium zu besuchen. Kafka hatte keine Schwierigkeiten in der Schule, dennoch hatte er mit zahlreichen Problemen abseits davon zu kämpfen – besonders belasteten ihn väterliche Drohungen und die terrorisierende Art seines Vaters. Dieser zwang ihn nach Abschluss seiner schulischen Laufbahn auch zum Jurastudium, welches Kafka dennoch erfolgreich abschloss. Kafka wurde durch die autoritäre Art seines Vaters so sehr geprägt, dass sie ihn sein ganzes Leben lang verfolgte und auch in vielen seiner Werke eine bedeutende Rolle spielt.
Während seines Studiums lernte Kafka Max Brod kennen, mit dem er ab diesem Zeitpunkt eine lebenslange Freundschaft pflegte. Außerdem wurde er später von Kafka selbst zu seinem Nachlassverwalter bestimmt. Nach dem Studium begann Kafka zunächst ein Praktikum am Gericht, ehe er einen fixen Job bei einer Versicherungsgesellschaft auftrat.
Auch wenn es zunächst nicht so scheint, dass Kafka sich mit Literatur befasste und auch selbst schrieb, muss man hier hinter die Kulissen blicken:
Schon früh begann Kafka Tagebuch oder kleine Geschichten zu schreiben, die er jedoch schnell wieder vernichtete. Außerdem versuchte er sich ein Semester lang im Germanistikstudium. Nachdem er begann als Jurist zu arbeiten, nutzte er jede freie Minute, um sich dem Schreiben zu widmen. Sein „Brotberuf“ hielt ihm von dem ab, was er eigentlich machen wollte, deshalb entstanden alle seine Werke zu nächtlichen Zeiten. Seine freie Zeit untertags verbrachte er häufig im Kreise der Prager Literaten, die sich in Kaffeehäusern trafen.
Kafkas weiteres Leben war geprägt von seiner Arbeit, seinen Freundschaften (vor allem zu Max Brod und seiner jüngsten Schwester Ottla), seiner Krankheit und seinen mehr oder weniger gescheiterten Beziehungen zu Frauen. Nach wie vor schrieb Kafka viele Texte, doch prägten ihn viele Selbstzweifel, die ihn von der Veröffentlichung seiner Werke abhielten. Max Brod jedoch motivierte ihn immer wieder zum Weitermachen und brachte Kafka auch dazu, zumindest einige seiner Werke zu veröffentlichen.
Es waren die Folgen seiner Lungentuberkulose und zahlreicher Nebenkrankheiten, die Kafka in die Knie zwangen. Schließlich verstarb er 1924 in Österreich. Zuvor bestimmte er noch seinen Freund Max Brod zu seinem Nachlassverwalter dem er auch auftrug, alle seine unveröffentlichten Manuskripte zu verbrennen. Brod, der selbst als Schriftsteller arbeitete, konnte es jedoch nicht verantworten, diese tollen Werke zu vernichten und der Welt dieses kostbare Kulturgut vorzuenthalten. Deshalb entschied er gegen Kafkas Willen und begann Kafkas unveröffentlichte Werke zu veröffentlichen. Kafka verdankt Brod seine posthume Anerkennung, wir verdanken Brod viele bekannte Werke wie Das Schloss, Der Prozess oder sämtliche Briefwechsel Kafkas.
Heute zählen Kafkas Werke zur Weltliteratur, wurden in viele Sprachen übersetzt und werden weltweit von allen möglichen Menschen gelesen und gefeiert.
Franz Kafkas Urteil gehört nicht nur zu seinen bekanntesten Werken, sondern auch zu den bekanntesten Werken im deutschen Sprachraum. Diese Erzählung wurde in einem Zug in einer einzigen Nacht geschrieben und verschaffte Kafka nach der Veröffentlichung 1913 erstmals Bekanntheit. Wie auch viele seiner anderen Erzählungen oder Romanfragmente liegt in dieser Erzählung ein Vater-Sohn-Konflikt vor.
Zum Inhalt der Erzählung:
Der Hauptprotagonist, Georg Bendemann, sitzt am Fenster und verfasst gerade einen Brief an seinen russischen Freund. Da das Leben seines Freundes nicht gerade von Positivität geprägt ist, verschweigt Georg ihm viele Ereignisse aus seinem Leben. Obwohl er sich erst kürzlich verlobt hat, möchte er seinem Freund nicht davon zu erzählen, entschließt sich jedoch nach langem Hin und Her und gutem Zureden seiner Braut, es doch zu tun.
Nachdem er den Brief fertig geschrieben hat, entschließt er sich zu seinem Vater ins Zimmer zu gehen. Er findet seinen Vater in seinem dunklen Zimmer geschwächt hervor. Georg erzählt seinem Vater von seinem Brief, woraufhin ein Streit zwischen den beiden entsteht. Georgs Vater behauptet zunächst den Freund nicht zu kennen ehe er plötzlich meint, schon lange mit dem Freund in Briefkontakt zu stehen. Außerdem wirft er ihm vor, ihn vernachlässigt, das gemeinsame Geschäft an sich gerissen, den Tod der Mutter verschuldet und eine unehrenhafte Verlobte ausgewählt zu haben.
Kurz bevor der Streit total eskaliert, beendet der Vater die Auseinandersetzung und verurteilt Georg zum Tode des Ertrinkens. Daraufhin läuft dieser aus dem Haus, stürmt zu einem Fluss und lässt sich nach kurzer Überlegung über den Lärmpegel des Verkehrs mit den Worten „Aber liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt“ von der Brücke hinabfallen.
Wer die ganze Erzählung lesen möchte, kann dies hier tun.
Wenn man die gesamte Erzählung gelesen hat, ist es erst einmal das Gefühl der Verwirrtheit, welches eintritt. Man stellt sich zahlreiche Fragen und möchte eine Antwort darauf haben. Selbst, wenn ihr nur die kurze Zusammenfassung oben gelesen habt, dürften euch einige Punkte verwirren.
Welche Rolle spielt der Freund? Ist er real?
Wie kann man die Verwirrtheit des Vaters deuten?
Warum akzeptiert Georg das Urteil seines Vaters ohne Widerrede?
Welche Verbindungen gibt es zu Kafkas Leben?
Diese Punkte verwirrten mich nach dem ersten Lesen am Meisten und tatsächlich gehören auch diese Punkte zu den Fragen, zu denen es die meisten Deutungen gibt. Insgesamt wurden über 200 deutschsprachige Deutungsversuche veröffentlicht – damit ist Das Urteil wohl das am meisten interpretierte Werk im deutschen Sprachraum.
Doch egal wie viele Interpretationsversuche es geben würde, man würde nie eine zufriedenstellende Antwort finden. Es gibt auch kein Richtig oder Falsch.
Im Zuge meines Studiums habe ich Das Urteil aus vielen verschiedenen Blickwinkeln analysiert, darunter z.B. aus der Sicht des Strukturalismus, der Hermeneutik, der Psychoanalyse oder der Rezeptionsästhetik. Mit jeder neuen Interpretation entstanden in meinem Kopf neue Fragen. Jede Interpretation hatte eigene Ansätze, mit denen es galt sich auseinanderzusetzen. Am Ende war ich genau so schlau, wie auch schon zuvor.
Aus diesem Grund kann ich euch hier auch keine Antworten oder weitere Ausführungen zum Urteil bieten, sondern kann euch nur wärmstens empfehlen es zu lesen und euch durch die vielen Inputs selbst ein Bild zu machen.
Ich kann euch versprechen, dass euch diese Erzählung die Schuhe ausziehen wird und ihr nach dem Lesen zwar überwältigt sein werdet, jedoch nie die totale Befriedigung erleben könnt.
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