Zu einer Zeit, in der die Radioaktivität noch kaum erforscht war, zogen sich etliche US-amerikanische Fabrikarbeiterinnen aufgrund unsicherer Arbeitsbedingungen eine Radiumvergiftung zu. Die sterbenskranken jungen Frauen führten bis zum bitteren Ende einen Kampf für die Gerechtigkeit. Ihr selbstloser Akt verbesserte die Arbeiterrechte in den USA erheblich und rettet vermutlich vielen weiteren Menschen das Leben.
DIE ENTDECKUNG DER RADIUMS
Im Jahr 1898, als die Radioaktivitätsforschung noch in den Kinderschuhen steckte, gelang es der polnisch-französischen Wissenschaftlerin Marie Curie und ihrem Ehemann Pierre, ein seinerzeit unbekanntes Element aus einer Uranerz-Probe zu gewinnen. In Anlehnung an seine ausgeprägte radioaktive Strahlung, die millionenfach stärker ist als bei reinem Uran, nannten sie dieses Element Radium – lateinisch für „das Strahlende“.
Nach einigen Selbst- und Tierversuchen schätzten die Curies, die für ihren Fund den Nobelpreis erhielten, sehr geringe Dosen an Radium zunächst als unbedenklich ein. Darüber hinaus stellten sie fest, dass radioaktive Strahlung imstande ist, krankhafte Körperzellen zu zerstören, und das Element daher zur Behandlung von Krebszellen eingesetzt werden kann. Heute wird Radium dafür kaum noch verwendet, nichtsdestotrotz schufen Marie und Pierre mit ihrer Forschungsarbeit ein Fundament für die moderne Strahlentherapie.
Da das Ehepaar Curie den Prozess zur Gewinnung von Radium nicht patentierte, wurde ihre brisante Entdeckung schon bald mutwillig in anderen (pseudo-)medizinischen Bereichen eingesetzt und schließlich als innovatives Allheilmittel kommerzialisiert. Denn wenn es den üblen Krebs heilen konnte, wieso nicht auch andere Krankheiten? Mit dem Versprechen, das energiereiche Element sei gesundheitsfördernd und erhöhe die Lebenserwartung, wurde Radium zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem riesigen Kassenschlager: Die Menschen nahmen u. a. Radium-Bäder, aßen Radium-Schokolade oder cremten sich mit radium-haltigen Lotionen ein.
RADIUM IN DER UHRENINDUSTRIE
Neben der vermeintlichen Heilwirkung des Radiums sorgte auch seine Leuchtkraft allseits für Faszination. In diesem Sinne entwickelte der deutsche Unternehmer Arthur Junghans schon 1907 eine radium-basierte Leuchtfarbe, die primär in der Uhrenmanufaktur zum Bemalen von Ziffernblättern genutzt werden sollte. Auf diese Weise konnten Uhren nämlich auch im Dunkeln gelesen werden.
Während des Ersten Weltkrieges machte u. a. die U. S. Radium Corporation von der radioaktiven Farbe Gebrauch und stattete das amerikanische Militär mit allerlei praktischen „glow-in-the-dark“-Artikeln aus – darunter vor allen Uhren, aber auch Kompasse und diverse Messanzeiger für Fahr- und Flugzeuge. Für die Produktion beschäftigte das Unternehmen Hunderte von Menschen, die die Waren bemalten. Hauptsächlich handelte es sich dabei um sehr junge Frauen wie Grace Fryer oder Catherine Donohue, die den späteren Rechtsstreit gegen ihre Arbeitgeber anführen sollten.
Obwohl sich zur damaligen Zeit schon Skepsis gegenüber den gesundheitlichen Auswirkungen von Radium breitmachte – auch Marie Curie selbst soll mittlerweile an den Konsequenzen ihrer Strahlenforschung gelitten haben –, versicherte man den Fabrikarbeiterinnen, dass die Leuchtfarbe harmlos sei. Anders als die Männer, die für die Herstellung von Radium im Labor arbeiteten, ließ man die Frauen in der Fabrik ohne jeglichen Schutz mit dem radioaktiven Element hantieren. Um genau zu sein, wies man sie sogar an, ihre Pinsel regelmäßig mit ihren befeuchteten Lippen zu spitzen, um feinere Linien ziehen zu können. So nahmen die Ziffernblattmalerinnen jedes Mal, als sie an ihrem Pinsel nuckelten, eine langfristig schädigende Menge an Radium zu sich. Einige der Frauen bemalten sich ihre Gesichter aber auch zum Spaß mit der grell leuchtenden Farbe.
DIE GESUNDHEITLICHEN LANGZEITFOLGEN
Im Laufe der Jahre häufte sich das Vorkommen gewisser Krankheitssymptome unter den Arbeiterinnen in den Uhrenfabriken. Da sich Radium ähnlich wie Kalzium in den Knochen einlagert, bekamen viele von ihnen vorerst z. B. einfache Zahnschmerzen. Doch dabei blieb es nicht, die radioaktive Strahlung griff nach und nach ihren gesamten Kieferknochen an und durchlöcherten ihn, bis der übergebliebene Stummel schließlich in sich zerfiel. Bei anderen Frauen waren es stattdessen die Beine, die betroffen waren, und bei wieder anderen bildeten sich riesige Tumore am Kiefer, der Hüfte oder an der Wirbelsäule.
EIN ERBITTERTER KAMPF FÜR DIE GERECHTIGKEIT
Trotz aller Warnzeichen bestritt der Arbeitgeber der Radium Girls – so nannte die Presse die jungen Frauen – konsequent einen Zusammenhang zwischen den Krankheitsbildern und dem dauerhaften Kontakt zu der radium-haltigen Farbe. Eine veranlasste Studie, bei der u. a. die leuchtenden radioaktiven Knochen bereits verstorbener Fabrikarbeiterinnen untersucht wurden, sollte die Anschuldigungen der Frauen eigentlich beweisen. Im Gegenzug finanzierte die mächtige U. S. Radium Corporation jedoch eine weitere, allerdings verfälschte Studie, die die vorherigen Ergebnisse widerlegte.
Da den Frauen die Zeit davonrannte und sie ihre Zeugenaussagen zum Teil schon vom Sterbebett aus tätigten, einigten sie sich schließlich außergerichtlich mit dem Unternehmen. Das mag im ersten Moment wie eine Niederlage klingen, jedoch bekam ihr Fall so große mediale Aufmerksamkeit, dass Ziffernblattmalerinnen einer anderen Firmen sich dazu inspirieren ließen, den Rechtsstreit fortzuführen. Ihnen gelang es dann tatsächlich, ihren Arbeitgeber vor Gericht zur Rechenschaft zu ziehen.
Im Anschluss an den erfolgreichen Prozess wurden die Arbeitsverhältnisse in den Uhrenfabriken optimiert, sodass in folgenden Jahren keine weiteren Fälle von Radiumvergiftungen mehr bekannt wurden. Darüber hinaus setzte man die radioaktive Verstrahlung auf die Liste der entschädigungspflichtigen Krankheiten, wodurch es Opfern in Zukunft einfacher gemacht werden sollte, ihre Arbeitgeber zu belangen. Damit war ein erster Schritt zur Verbesserung des US-Arbeitsschutzgesetztes getan.
Die überlebenden Radium Girls selbst wurden noch jahrzehntelang beobachtet, um weitere Erkenntnisse über die Auswirkung von Radioaktivität auf den Menschen zu sammeln.