Entführt von Heinrich Stile
Sheerio wachte, wie jeden Morgen, mit dunklen Augenringen auf. Ihre schulterlangen braunen Haare band sie sich in einer grazilen Bewegung zu einem messy bun zusammen, danach streifte sie sich ihren Bademantel über den Pyjama und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmerfenster. Seitdem Sheerio denken konnte, war sie Fan des Künstlers Heinrich Stile der damaligen Band Eine Richtung. Heinrich, dessen grüne Augen und braune Haare ihre Welt verzauberten und der sie immer und immer wieder zum Lächeln brachte, war ihr absoluter Lieblingssänger. Vor einigen Wochen mietete sie deshalb ein Großflächenplakat vor ihrem Zimmerfenster, welches das Gesicht von Heinrich zeigte. Seine Augen fesselten sie auch an diesem Morgen, sodass sie erst nach weiteren fünf Minuten ihren Weg in die Küche antrat. Erneut blieb sie stehen – diesmal auf der Treppe – da sie von unten fremde und doch vertraute Stimmen hörte.
Ihre Mutter diskutierte mit einer Person, welche vorerst nicht in Sheerios Blickwinkel erschien. Erst, als sie die letzten Treppenstufen hinunterglitt, sah sie den Mann, der mit ihrer Mutter sprach. „Heinrich!“ schrie Sheerio voller Begeisterung, doch konnte es selbst kaum glauben. „Was führt dich zu meinem Anwesen?“, fragte sie ihren Lieblingssänger. Sheerios Mutter intervenierte schrill: „Sheerio, ich möchte, dass du auf dein Zimmer gehst und deine Sachen packst. Ich habe dich an den werten Herr Stile verkauft.“ Für Sheerio brach eine Welt zusammen. Schon immer wusste sie, dass ihre Mutter geradezu geldgierig war. Doch ihre eigene Tochter zu verkaufen, war etwas, dass Sheerio nie gedacht hätte.
„Sheerio, deine grün-braunen Augen und dein majestätischer messy bun haben mich angelockt! Natürlich auch das Großflächenplakat im 18/1er Format, mit der Abmessung 3.560 x 2.520 Millimetern, welches vor deinem Zimmerfenster steht und meine Visage köstlichst präsentiert“, gab Heinrich von sich. Sheerio hörte jedoch lediglich ihren Namen, da seine Stimme ihr alle Sinne raubte und sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Dass Heinrich sie nur dafür gekauft hatte, dass sie für ihn kostenlos Werbemittel produziert, überhörte sie schlicht.
Schnell lief Sheerio die Treppen hinauf, packte neben ihrer Labubu Figur Nummer 87 und ihrem Stanley Cup nur das absolut notwendigste ein: einen großen Pappaufsteller von Heinrich, an dem sie ihren ersten Kuss übte. Ihre Klamotten waren zweitrangig und unnötig, fand sie. Wenn Heinrich sie wirklich lieben würde, würde er dies auch in ihrem Schlafanzug und Bademantel tun. Als Sheerio die Treppen wieder hinuntersauste sah sie nur, wie ihre Mutter einen 5-EuroSchein von Heinrich annahm. Danach packte Heinrich sie an der Taille und wirbelte sie wie einen Beyblade in die Luft – ohne sanfte Landung. Er steckte sie wie ein Surfbrett unter den Arm und trug sie majestätisch zu seinem Auto – einem knallblauen Cybertruck. Sheerio war hin und hergerissen. Sie hatte sich ihren Prinz Charming eher in einer Pferdekutsche vorgestellt, oder zumindest einem Mercedes, aber nicht in … so etwas. „Zumindest hatte Heinrich einen fahrbaren Untersatz,“ versuchte sie sich einzureden.
„Sheerio, my darling, bitte mach es dir bequem“, hörte sie ihren Schwarm sagen. Heinrich ließ sie sanft auf dem Beifahrersitz nieder und zum ersten Mal konnte Sheerio ihn ungestört begutachten. Seine grünen Augen hatten die Farbe von Tannen, NEIN, Fichten! Sie waren ein versiffter, abgestandener See und das grün einer Blumenwiese gemeinsam. Tannen und Fichten, aber auch Föhren und Eichen, aber keine Birken, waren in seinen Augen zu finden. Seine Haut war braungebrannt und weiß wie ein DINA4-Blatt gleichzeitig, je nach Sheerios Vorlieben. Seine Haare waren so lang wie eine Spaghetti und so lockig wie eine Haarlocke. Kurzgesagt, Heinrich sah absolut träumerisch und zum Verlieben aus. Sheerio sah nicht, wie Heinrich ihre letzten drei Habseligkeiten absichtlich am Straßenrand zurückließ, bevor er in sein Auto einstieg und die beiden in ihr neues gemeinsames Leben starteten.
Ganze 50 Stunden fuhren sie ohne Pause. Wenn Sheerio genau hinsah, erkannte sie, dass Heinrich seit ihrer Abfahrt kein einziges Mal geblinzelt hatte, aber das störte sie nicht weiter. Jeder hat so seine Eigenheiten, dachte sie immer. Endlich in London angekommen (30 der 50 Stunden verbrachten sie übrigens damit, in einem Kreisverkehr einfach nicht auszufahren), parkte Heinrich sein Auto vor einem Hochhaus. Es war das hochhausigste Hochhaus, das Sheerio jemals gesehen hatte. Links und rechts davon waren Plakatwände, auf denen Heinrich in unterschiedlichsten Outfits präsentiert wurde. Sheerio war im achten Himmel.
Heinrich stieg aus, öffnete ihre Beifahrertür und wirbelte sie erneut wie einen Beyblade, bevor er sie unter seinen Arm nahm und mit ihr gemeinsam das Hochhaus betrat. „Guten Abend, Herr Stile,“ hörte Sheerio eine (womöglich?) Angestellte des Unternehmens sagen. „BmmHhrrrr zzz zzz,“ erwiderte Heinrich. Aus seinem Mund kam Rauch hervor, den er mit seiner freien Hand wegwirbelte. Er räusperte sich, verschnellerte seinen Schritt und ging an den Aufzugstüren (welche offen standen), vorbei und rannte die Treppen hinauf. Nach ETLICHEN Stockwerken waren sie am Ziel angelangt. Heinrich stellte die verblüffte Sheerio am Boden ab und wies sie an, ihre Arme nach vorne zu strecken. Sheerio war verblüfft, doch gehorchte ihrem Liebling sofort. Was danach kam, ahnte niemand – außer Sheerios Mutter.
Einige Monate später dachte Sheerio an ihr altes Leben zurück. Sie war seit mittlerweile 5 Wochen unfreiwillige Angestellte der Heinrich Stile GmbH. Was Heinrich mit ihr anstellte? Er legte sie in Handschellen und führte sie in einen Raum, wo viele weitere Heinrich-Fans aufeinandertrafen. Dort erklärte er, dass sie von nun an unentgeltlich für ihn arbeiten müssten. Großflächenplakate entwerfen. 18/1er. 3.560 x 2.520 Millimeter. Hätte Sheerio niemals das Großflächenplakat in ihrer Heimat genutzt, um sein Gesicht darauf zu präsentieren.