REPORTAGE Ghost Kitchen |
Lesedauer: ~3 Minuten - Hördauer: 4,5 Minuten (Hörfassung) Abends nach der Arbeit noch kurz beim Supermarkt vorbei geschaut und schon sieht man die Schlange an müden Menschen an der Kasse. Kein Bock sich da noch anzustellen. Oder Sonntag den halben Tag für eine Prüfung gebüffelt und außer den Rosinen aus dem Studentenfutter nichts mehr in der Küche. Zum Essen gehen ist einem auch nicht, die Zeit könnte man ja eh besser mit Lernen befüllen. Filmeabend und man kann sich einfach nicht dafür entscheiden, ob es Pizza, Sushi, Burger oder nicht vielleicht doch Falafel geben soll. Lieferdienste sind zum regelrechten Highlight unseres modernen und schnellen Lebens geworden. Dabei ist die Idee gar nicht mal so neu. Archäologische Untersuchungen haben Reste gefunden, die darauf schließen, dass bereits in der Bronzezeit Essenslieferungen gar nicht so unüblich waren. [Artikel Standard] Doch ich möchte weder über die Geschichte von Lieferdiensten, noch über die arbeitsrechtlichen und menschlichen Bedinungen des Business reden, egal wie interessant und spannend beide Abgründe auch sein mögen. Mich interessiert mehr die potenzielle Zukunft einer bereits sehr auf Gewinnmaximierung und Diversifierung ausgelegten Branche und wie sie in unsere Konsum-Gesellschaft hinein passt. Bester Einstieg war ein Artikel aus der Zeit von Juni 2020. Hier ist die Rede von sogenannten Ghost Kitchen - ein Begriff, der vielen nichts sagen dürfte, obwohl die Chance nicht gerade gering ist, dass ihr schon einmal Essen aus einer solchen Küche hattet. Das Konzept kommt aus den Staaten und hat auch in Europa mittlerweile Fuß gefasst. Da in Amerika gerne auch in großen Lagerhallen gekocht wird, heißen die Einrichtungen dort auch manchmal Dark Kitchen. Doch wer glaubt, dass es sich hier um eine besondere Art von Lokal handelt, der irrt. Tatsächlich sind es keine Restaurants, in denen man Essen zum dort Verzehren bekommt. Es ist kein Sitzinventar vorhanden und Servierpersonal gibt es erst recht nicht. Ghost Kitchen sind Küchen, die für Marken Essen kochen und dann an Lieferdienste zum Ausliefern an den Kunden weiter geben. Die Küchen und Restaurants existieren lediglich für Lieferdienste. Und die Idee dahinter ist eigentlich gar nicht mal so blöd. Dadurch dass die Lokale quer durch die Städte verteilt sind und quasi die gleichen “Restaurants” bekochen, bedienen sie gemeinsam einen einheitlichen Lieferradius. Denn machen wir uns nichts vor, nichts ist enttäuschender als ein erstklassiges Produkt, das nach über einer Stunde kalt und pappig bei einem ankommt. Das Essen wird dabei komplett nach striktem Plan von der diensthabenden Küchen-Crew zubereitet. Nichts von wegen Kreativität der Köche. Die Rezepte werden genau wie die Konzepte der Restaurants und die Speisekarten entwickelt und ausgeklügelt - angepasst an das spezifische Klientel des Lieferbereichs. Es wird ausgewertet, welches Produkt um welche Uhrzeit in welchem Stadtteil gut ankommt und basierend auf den Werten werden die Restaurants entwickelt. Und wenn ein Angebot dann doch nicht so gut läuft? Kein Problem, es ist in kürzester Zeit von einem neuen abgelöst und nutzt einfach die Infrastruktur der bereits vorhandenen Küche. In Deutschland sind die meisten liefernden Küchen immer noch reell existierende Franchises oder Einzellokale und dadurch enorm eingeschränkt, was ihre Lieferbereiche angeht. Ghost Kitchen wirken dem entgegen und bieten unter dem Deckmantel verschiedener Küchen eine Bandbreite an unterschiedlichen kulinarischen Angeboten. Für die Anbieter solcher Küchen ein großer Markt, denn mit nur einer Küche können sie innerhalb von nur wenigen Werktagen mehrere neue “Restaurants” in einem Bereich eröffnen und von jetzt auf gleich eine komplett Breite an Kunden bedienen. Das System aus den Staaten ist aber nicht nur für Essen entwickelt worden, sondern soll als Hub für alle möglichen Abhol- und Liefersysteme dienen können. Mit Essenslieferung hat man es erst einmal ausprobiert - und das zu einem sehr günstigen Zeitpunkt, denn in der Pandemie hat sich plötzlich herausgestellt, dass Lieferung anbieten für viele Restaurants über Monate hinweg nur noch die einzige Einnahmequelle war. Die Entwickler des Konzepts sehen jedenfalls eine große Zukunft darin und wollen die Idee auf sonstige Liefer- und Lagermöglichkeiten ausbauen. Ein Konzept, das zweifellos von der Prämisse des Kapitalismus’ lebt und der Schnelllebigkeit der Gesellschaft profitiert. Doch wie steht ihr dazu? Tolle Sache? Nur ein weiteres Zahnrad in der Ausbeutung von Arbeitskräften und sogar eine Verkleinerung des sonst so diversen Gastronomie-Sektors? Für alle, die gerne auf einer Spaßnote enden wollen nochmal zurück zu den Lieferdiensten von vor langer Zeit. Quellen Artikel Zeit (Juni 2020) Artikel New Yorker (Juni 2020) |